Violetta L. Waibel. Transzendental ideal, empirisch real. Kant über Raum und Zeit

 Universitätsprofessorin Dr. habil. Violetta L. Waibel M.A.


Universitätsprofessorin Dr. habil. Violetta L. Waibel M.A.

Zusammenfassung: Mit dem janusköpfigen Gebilde der transzendentalen Idealität von Raum und Zeit als Begriffen, die durch die Vernunft erwogen werden und der empirischen Realität der Raum-Zeit-Bestimmungen als Anschauungsformen im äußeren und inneren Sinn antwortet Kant auf die empiristischen  Einwände Lamberts, die dieser im Hinblick auf die These der Idealität von Raum und Zeit in der Dissertation zu bedenken gegeben hat, ohne die 1770 gewonnen Einsichten systematisch verändern zu müssen. Die Erweiterung macht explizit, was sachlich bereits angelegt ist. Die von Kant zugestandene Zweigesichtigkeit stellt den Ausgang zu einer Phänomenologie des Raum- und Zeitbewußtseins bereit, die Kant selbst nicht ausgeführt hat, wenngleich eine solcher Ansatz das Verständnis und eine Kritik der den Raum-Zeit-Bestimmungen korrespondierenden Objektbestimmungen erheblich erleichtern könnte. Auf dieser Basis wäre zu diskutieren, ob Kants Theorie im Ansatz noch heute gültig ist.

Raum und Zeit stellen in Kants Kritik der reinen Vernunft ein merkwürdig janusküpfiges Gebilde dar. Sofern Raum und Zeit durch die Vernunft erwogen werden, um von ihnen einen Begriff zu gewinnen, mutet uns Kant zu, sie als tranzendental ideal bestimmt zu betrachten. Sehen wir in ihnen die Bedingung jeder nur möglichen sinnlichen Erfahrung, werden sie also als reine Formen der Anschauung begriffen, so sind sie Kant zufolge empirisch real bestimmt. In Kants Worten:

«Unsere Erörterungen lehren demnach die Realität (d.i. die objektive Gültigkeit) des Raumes in Ansehung alles dessen, was äußerlich als Gegenstand uns vorkommen kann, aber zugleich die Idealität des Raumes in Ansehung der Dinge, wenn sie durch die Vernunft an sich selbst erwogen werden, d.i. ohne Rücksicht auf die Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit zu nehmen. Wir behaupten also die empirische Realität des Raumes (in Ansehung aller möglichen äußeren Erfahrung), ob zwar zugleich die transzendentale Idealität desselben, d.i. daß er nichts sei, sobald wir die Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung weglassen, und ihn als etwas, was den Dingen an sich selbst zum Grunde liegt, annehmen.» [2, A 27-28/B 43-44]

Die entsprechende Parallelstelle zur Zeit lautet:

«Unsere Behauptungen lehren demnach empirische Realität der Zeit, d.i. objektive Gültigkeit in Ansehung aller Gegenstände, die jemals unseren Sinnen gegeben werden mögen. Und da unsere Anschauung jederzeit sinnlich ist, so kann uns in der Erfahrung niemals ein Gegenstand gegeben werden, der nicht unter die Bedingung der Zeit gehörte. Dagegen bestreiten wir der Zeit allen Anspruch auf absolute Realität, da sie nämlich, auch ohne auf die Form unserer sinnlichen Anschauung Rücksicht zu nehmen, schlechthin den Dingen als Bedingung oder Eigenschaft anhinge. Solche Eigenschaften, die den Dingen an sich zukommen, können uns durch die Sinne auch niemals gegeben werden. Hierin besteht also die transzendentale Idealität der Zeit, nach welcher sie, wenn man von den subjektiven Bedingungen der sinnlichen Anschauung abstrahiert, gar nichts ist, und den Gegenständen an sich selbst (ohne ihr Verhältnis auf unsere Anschauung) weder subsistierend noch inhärierend beigezählt werden kann.» [2, A 35-36/B 52]

Ist ein derartiger janusköpfiger Perspektivismus, von dem hinsichtlich Kants Bestimmungen von Raum und Zeit gesprochen werden kann, tatsächlich unumgänglich, oder fordert Okhams berühmtes Rasiermesser nicht vielmehr, die Prinzipien Raum und Zeit als Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung eindeutig zu bestimmen?

Die Transzendentale Idealität von Raum und Zeit ist bekanntlich Resultat von Kants metaphysischen Erörterungen ihrer Existenzform. Kants Argumentation für die Idealität beruht auf der Abweisung der Möglichkeit, Raum und Zeit als empirsch gegeben zu interpretieren. Wären sie empirisch gegeben, so könnten sie weder schlechthin notwendig für jede sinnliche Erfahrung gelten, denn alles empirisch Gegebene schließt strikte Notwendigkeit von sich aus, noch wären sie Bedingungen aller möglichen sinnlichen Erfahrung, die vor den empirischen Erscheinungen vorhergehen, also a priori bestimmt sind, sondern sie wären mit den Erscheinungen zugleich in eine Reihe zu stellen. Implizit ist damit bereits die These ausgesprochen, daß es unter den empirischen Erscheinungen nach Maßgabe der menschlichen Erkenntnis keine erste geben kann. Die Vorstellung eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit, die Realitäten darstellen, die unabhängig von allen Erscheinungen existieren, ist für Kant eine unhaltbare Vorstellung. Ebenso unhaltbar ist ihm aber auch die Annahme, Raum und Zeit seien Eigenschaften, die den Erscheinungen neben anderen Eigenschaften zuzuschreiben seien.

Kant weist den Leser zu dem Gedankenexperiment an, alle Dinge aus dem Raum und aus der Zeit hinwegzudenken. Sein Resultat lautet: Wir können uns alle Dinge aus dem Raum und aus der Zeit hinwegdenken, es gelingt uns aber nicht, damit zugleich auch die Vorstellung vom Raum zu eliminieren. Der Versuch, ein Jenseits von Raum und Zeit zu denken, ist prinzipiell zum Scheitern verurteilt. Dieses Jenseits stellt nur das Überspringen einer imaginären Grenze von Raum und Zeit dar, um es uns unhintergehbar wiederum als Räumlich und Zeitlich vorzustellen. Ähnlich fällt das Gedankenexperiment aus, wenn wir die Eigenschaften von Gegenständen sukzessive hinwegdenken, um uns vorzustellen, was die Eigenschaft der Räumlichkeit und Zeitlichkeit der Dinge sei. Nach Abzug aller Eigenschaften von den Dingen bleibt von ihnen nichts übrig, auch nicht die Eigenschaft, einen Raum einzunehmen und in der Zeit gegeben zu sein. Die Eigenschaften der Dinge sind für Kant das Materiale der Erscheinungen, dasjenige, das uns durch Wahrnehmung zugänglich ist, während Raum und Zeit die bloße reine Form zur wahrnehmenden Anschauung bereitstellt.

Gegeben, Kants Erweis der Idealität von Raum und Zeit sei gelungen und unabweisbar, so mutet es um so seltsamer an, daß dem Raum und der Zeit nun doch empirische Realität zugesprochen wird, sei es auch, daß diese Realität nicht als absolute Realität angenommen werden dürfe. Eine genaue Lektüre von Kants «Erläuterung» zur Zeit erlaubt eine philosophiehistorische Antwort auf die Frage nach dem merkwürdigen Zwitterwesen der beiden Anschauungsformen von Raum und Zeit. Daran läßt sich eine systematische Interpretation und Beurteilung der transzendentalen Idealität bei gleichzeitiger emprischer Realität anschließen.

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Den mit «Erläuterung» überschriebenen Teil der Transzendentalen Ästhetik, beginnt Kant mit folgender Überlegung.

«Wider diese Theorie, welche der Zeit empirische Realität zugesteht, aber die absolute und transzendentale bestreitet, habe ich von einsehenden Männern einen Einwurf so einstimmig vernommen, daß ich daraus abnehme, er müsse sich natürlicherweise bei jedem Leser, dem diese Betrachtungen ungewohnt sind, vorfinden. Er lautet also: Veränderungen sind wirklich (dies beweist der Wechsel unserer eigenen Vorstellungen, wenn man gleich alle äußeren Erscheinungen, samt deren Veränderungen, leugnen wollte). Nun sind Veränderungen nur in der Zeit möglich, folglich ist die Zeit etwas Wirkliches. Die Beantwortung hat keine Schwierigkeit. Ich gebe das ganze Argument zu. Die Zeit ist allerdings etwas Wirkliches, nämlich die wirkliche Form der inneren Anschauung. Sie hat also subjektive Realität in Ansehung der inneren Erfahrung, d.i. ich habe wirklich die Vorstellung von der Zeit und meinen Bestimmungen in ihr. Sie ist also wirklich nicht als Objekt, sondern als die Vorstellungsart meiner selbst als Objekts anzusehen.» [2, A 36-37/ B 53/54][1]

Es ist bekannt, daß sich Kant hier auf den Briefwechsel mit Johann Heinrich Lambert bezieht. Lambert hat 1765 brieflich das philosophische Gespräch mit Kant gesucht. Am 2. September 1770 schickt Kant seine Dissertation an den Berliner Gelehrten mit der Bitte, besonders die Abschnitte II., III. und V. zu beachten, während er I. und IV. als unerheblich übergehen könne. Die Betrachtung der Gliederung der Dissertation, Von der Form der Sinnen- und Verstandeswelt und ihren Gründen (1770) (De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis), zeigt, daß Kant Lambert offenkundig um Prüfung der neuen Einsichten über die Unterschiede von Sinnlichkeit und Verstand (II.), der Form der Sinnlichkeit (III.), sowie der daraus erwachsenden neuen Einsicht in die Methode zum Verhältnis von Sinnlichkeit und Intellektualität (V.) bittet.

Da Kant sich mit der Sendung der Dissertation zugleich dafür entschuldigt, Lamberts letzen Brief von 1766 so lange nicht beantwortet zu haben, weil er über dessen Brief in ein langes angestrengtes Nachdenken verfallen sei, so muß vermutet werden, daß Kant einen ersten entscheidenden, aber nicht näher bezeichneten Anstoß zu seiner neuen Theorie von Raum und Zeit von Lambert erhalten hat. Die in der Forschung diskutierten Hypothesen können hier beiseite gesetzt werden

In der zitierten Passage der Kritik der reinen Vernunft reagiert Kant nun wiederum auf eine Überlegung Lambert, die dieser im Anschluß an die Lektüre der Dissertation geäußert hat. Kant hat bekanntlich bereits in der Dissertation zugunsten der Idealität von Raum und Zeit und deren Bestimmung als bloßen Anschauungsformen jeder möglichen sinnlichen Erkenntnis in einer Weise argumentiert, die systematisch im wesentlichen derjenigen gleicht, die er auch in der transzendentalen Ästhetik der Kritik der reinen Vernunft vorgelegt hat.

Lambert akzeptiert Kant Thesen, nach denen Raum und Zeit weder (absolute) Substanzen (Newton-Kritik), noch bloße Verhältnisse (Leibniz-Kritik) darstellen. Dennoch leuchtet es ihm nicht ein, Raum und Zeit jegliche Realität in der Erfahrung abzusprechen. Daß aber Raum und Zeit lediglich als subjektive Erkenntnisformen aufgefaßt werden dürfen, bereitet Lambert ein erhebliches Verständnisproblem. Daher bittet er Kant nach der Lektüre der Dissertation die Idealitätsthese nochmals genau zu prüfen. Lamberts Einwand lautet:

«Alle Veränderungen sind an die Zeit gebunden und lassen sich ohne Zeit nicht gedenken. Sind die Veränderungen real, so ist die Zeit real, was sie auch immer sein mag. Ist die Zeit nicht real, so ist auch keine Veränderung real. Es däucht mich aber doch, daß auch selbst ein Idealiste wenigstens in seinen Vorstellungen Veränderungen, wie Anfangen und Aufhören derselben, zugeben muß, das wirklich vorgeht und existiert. Und damit kann die Zeit nicht als etwas nicht reales angesehen werden.»[2] Genau auf diese Überlegungen reagiert Kant in der Kritik der reinen Vernunft in der bereits zitierten Passage der «Erläuterung».

Hat Kant also möglicherweise doch einen Wandel seiner Ansichten über Raum und Zeit von der Dissertation zur ersten Kritik vollzogen, wenn er, wie hier, Bestimmungen der Zeit als wirklich bezeichnet und ihnen subjektive Realität zuschreibt, eine Charakterisierung, die man in der Dissertation vergeblich sucht? Diese Frage ist entschieden mit nein zu beantworten. Systematisch hat Kant an seiner Erklärung von Raum und Zeit nichts geändert. Lamberts Einwand hat jedoch dazu geführt, daß Kant die Sprechweise in der Dissertation, derzufolge die Idealität von Raum und Zeit als subjektive Bedingungen der Anschauung anzusehen sind, verwandelt in die Formel der transzendentalen Idealität bei gleichzeitiger empirischer Realität. Theoretisch wäre eine solche Ausdrucksweise bereits in der Dissertation denkbar. Die Doppelung der Sprechweise gründet sich darauf, daß die metaphysische Erörterung eine Metareflexion der kritischen Vernunft darstellt, in denen über Raum und Zeit, also deren Begriff, verhandelt wird, ohne daß diese Begriffe zugleich als aktual vollzogene Anschauungen präsent sind. Kant betont zwar, der Raum und die Zeit lassen sich durch kein Gedankenexperiment hinwegdenken. Aber er würde sich wohl kaum zu der These verpflichten wollen, daß Raum und Zeit stets und notwendig im Fokus der Aufmerksamkeit des Bewußtseins stehen. Die aktualen Vorstellungen von Räumlichkeit und Zeitlichkeit, und sei es die des leeren Raumes und der leeren Zeit, vollziehen sich im inneren und äußeren Sinn, eine Lehre, die Kant nicht erst in der Kritik der reinen Vernunft, sondern bereits in der Dissertation vertritt.

In § 12 der Dissertation bezeichnet Kant die Anschauungen von Raum und Zeit noch als einzelne Begriffe, um sie von allgemeinen, logischen Begriffen zu unterscheiden. Er schreibt: «Die reine (menschliche) Anschauung aber ist kein allgemeiner oder logischer Begriff, unter dem, sondern ein einzelner, in dem man alles beliebige Sensible denkt, und enthält deshalb die Begriffe des Raumes und der Zeit; da diese in Ansehung der Beschaffenheit über das Sensible nichts bestimmen, sind sie Gegenstände der Wissenschaft nur in Ansehung der Größe. Daher betrachtet die reine Mathematik den Raum in der Geometrie, die Zeit in der reinen Mechanik.» [1, Bd. 12. 43-45][3]

In der Kritik unterscheidet Kant diskursive, allgemeine Begriffe die unter sich bestimmte Vorstellungen enthalten von der reinen Anschauung, die bestimmte Vorstellungen in sich enthalte. In dem Zusammenhang spricht er daher von der «ursprüngliche[n] Vorstellung vom Raume», die Anschauung a priori und nicht Begriff sei, sowie von der «ursprüngliche[n] Vorstellung Zeit» [2, B40; A 32/B48], die beide als ursprüngliche Vorstellungen als unbegrenzt und daher als unendlich angeschaut werden. Von diesen ursprünglichen Vorstellungen ist nun zu sagen, daß sie offenkundig latent präsent sind, wenn die Vernunft ihre, oder andere Begriffe metaphysisch erörtert, aber aktual erst dann ins Bewußtsein treten, wenn sie als diese angeschaut und ihre Unendlichkeit und Einzigkeit vorgestellt wird. Teilvorstellungen von Raum und Zeit werden dann in diesen als Auseinander oder Nacheinander situiert und zueinander ins Verhältnis gesetzt.

Kants These von der transzendentalen Idealität bei gleichzeitiger empirischer Realität rückt somit  bei genauerer Betrachtung die Frage nach der inneren Relation des Begriffes und der Anschauung von Raum und Zeit in den Blick. Seine Lehre der Zweistämmigkeit von Begriff und Anschauung greift somit offenkundig auf die Prinzipien möglicher Erkennntnisse selbst aus, wie sich am Beispiel von Raum und Zeit zeigt. Ähnliches läßt sich auch am Beispiel der transzendentalen Apperzeption zeigen, wenn man ihre Bestimmungen in der transzendentalen Deduktion der Kategorien und in den Paralogismen genau untersucht und aufeinander bezieht. Ob und wie dieses Zwitterwesen selbst noch einmal vermittelt werden kann, oder wie Begriff und Anschauung näherhin aufeinander bezogen sind, hat Kant nicht mehr näher reflektiert.

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Offenkundig sind in Kants Kritik grundsätzlich vier Repräsentationsformen von Raum und Zeit zu unterscheiden, wenngleich sie von ihm selbst nicht als diese aufgereiht werden und er schon gar nicht den Anspruch erhebt eine Phäomenologie des Raum- und Zeitbewußtseins auszuarbeiten.

1. (a) Das Denken, Beurteilen, Erörtern der Begriffe von Raum und Zeit ist ein begriffslogisches Vorstellen derselben, in dem ihre ursprünglichen Vorstellungen nicht notwendig aktual, aber gleichwohl lateral präsent sein müssen. Die Vernunft erschließt die Idealität von Raum und Zeit aufgrund von Gedankenexperimenten, die auf die ursprünglcihen Vorstellugnen bezogen werden. (b) Aber das Gedachtsein der Begriffe durch die kritische Vernunft ist selbst eine Handlung des Subjekts, die eine Sukzession von Gedanken darstellt, die als diese Sukzession durch den inneren Sinn wahrnehmbar ist und die Gedankenordnung allererst ermöglicht. Die Handlung des bloßen Denkens ist ganz unabhängig vom Inhalt der Gedanken der Vernunft empirisch real in der Zeit dem Sinne, wie Kant dies Lambert zugestanden hat. die Gedankenabfolge stellt nämlich eine Sukzession subjektiver Veränderungen dar.

2. (a) Die ursprünglichen Vorstellungen der Anschauungsformen von Raum und Zeit, sind, so Kant, nichts anderes als die Form des äußeren und des inneren Sinns. (Vgl. [2, A26/B42; A33/B49]). Sofern die Einigkeit und Unendlichkeit des leeren Raums und der leeren Zeit ursprünglich vorgestellt wird, scheinen beide Anschauungsformen aus der latenten Präsenz im äußeren und inneren Sinn in den Fokus des aktualen Bewußtseins einzutreten. (b) Das aber wirft die Frage auf, die sich Kant nicht gestellt hat, ob der leere Raum hierbei allein durch den äußeren Sinn repräsentiert ist, oder, wie im Fall der von der Vernunft erörterten Begriffe, auch im inneren Sinn als eine Vorstellung in bestimmter Zeit repräsentiert ist. Daß dies genau der Fall ist, muß notwendig angenommen werden, wenn allgemien gilt, daß jede Bewußtseins- und Denkhandlung zugleich eine Bestimmung des inneren Sinns ist.

3. (a) Im inneren und äußeren Sinn werden bestimmte Raum und Zeitvorstellungen repräsentiert, die die reproduktive oder produktive Einbildungskraft des Subjekts erzeugt, ohne daß diese aktual gegebenen und wahrnehmbaren Raum-Zeit-Verhältnissen entsprechen. Dies ist dann der Fall, wenn ein Subjekt an bestimmtem Ort und zu bestimmter Zeit Raum-Zeit-Verhältnisse vorstellt, die nicht mit der erlebten Raum-Zeit übereinstimmt. (b) Auch diese Bestimmungen sind einmal ihrem Gehalt nach im inneren und äußeren Sinn repräsentiert und und bestimmen zugleich als Bewußtseinshandlung den inneren Sinn.

4. (a) Im inneren und äußeren Sinn werden bestimmte Raum und Zeitvorstellungen repräsentiert, die die aktual gegebenen und wahrnehmbaren Raum-Zeit-Verhältnissen repräsentieren. (b) Die Zeit des Bewußtseins fällt in diesem Fall mit den Raum-Zeit-Koordinaten der Wahrnehmung zusammen.

Diese Grundstruktur der Raum-Zeit-Erscheinungen erlaubt eine erste Übersicht über die komplexen Raum-Zeit- und Form-Inhalt-Verhältnisse als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnissen, die im Kontext des «Systems der Grundsätze des reinen Verstandes» näherhin und unter Fortführung seiner Frage nach der objektiven Gültigkeit der Erkenntnisse behandelt. Eine Phänomenologie des Raum-Zeit-Bewußtseins liegt nicht im systematischen Interesse von Kants kritischem Unternehmen, erleichtert jedoch den Zugang zu seiner Erkenntnistheorie und ist in ihr implizit angelegt, wie die Antwort auf Lambert und ihre Ausdeutung zeigt.

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Wenn Kant zurecht behauptet, daß dem Subjekt allein die raum-zeitlichen Bestimmungen aller möglichen und wirklichen Gegenstandsvorstellungen zufallen, so isr schließlich zu fragen, was diesen Bestimmungen in den wahrnehmbaren Gegenständen korrespondiert, um gegenstandsbezogene Raum-Zeit-Vorstellungen im Subjekt zu ermöglichen. In der Begegnung auf Lamberts empiristischen Einwand bezeichnete Kant alle Wahrnehmungszustände im Bewußtsein als empirisch real. Diese Wahrnehmungszustände bestehen 1. aus ihrer formalen, raum-zeitlichen Ordnung im Nacheinander, Zugleich, Nebeneinander, Auseinander und 2. aus der Materialität des sinnlich Gegebenen. Das auf der Synthesis der Kategorien beruhende material Gegebene sind Bestimmungen wie Beharrlichkeit der Materie, ihre Ortsveränderung, ihre Veränderlichkeit (Vergänglichkeit, Entstehen) in der Zeit, die Widerständigkeit, die Gravitation, um nur diese wenigen Bestimmungen zu nennen.

Die Raum- und Zeitbestimmungen sind an sich bloß subjektiv (transzendental ideal), als Resultat eines Bündels von objektbedingten Wahrnehmungszuständen im Subjekt sind sie empirisch real, und eröffnen in Verbindung mit den kategorialen Synthesisleistungen zugleich die Möglichkeit, objektive Eigenschaften der Materie und der Kräfte der Erscheinungen zu bestimmen. Dank dieser drei Komponenten und unter Mitwirkung der reinen, synthetisierenden Verstandesfunktionen können die physikalischen Ereignisse in der Welt subjektiv in Raum und Zeit geordnet und objektiv deren Materie und ihre inneren und äußeren Kräfte qualitativ, quantitativ, relational bestimmt und gemessen werden.

Die Argumente, die Kant zugunsten der Idealität und Apriorizität der reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit aufbietet, und diejenigen, mit denen er dem Empiristen entgegenkommt, indem er ihre Realität im aktualen Vollzug des Wahrnehmens, Beobachtens und Erkennens einräumt, scheinen von ungebrochener Aktualität zu sein. Daß sich Kant freilich in manchem auf falsche Aussagen festgelegt hat, was das der subjektiven Raum-Zeit-Anschauung korrespondierende materiale Objektgefüge darstellt, ist eine andere Sache. Die Unvereinbarkeit mancher Kantischen Aussagen mit denen der modernen Physik berührt vermutlich nicht die Grundbestimmungen der transzendentalen Idealität und empirische Realität desjenigen Raum-Zeit-Kontinuums, das den tatsächlichen Anschauungs- und Wahrnehmungshorizont des Menschen darstellt, sondern die Ebene der korrespondierenden Materialbestimmungen der Gegenstandswelt. Dies gälte es nun, aufgrund dieser Überlegungen zu prüfen.

Bibliographie

  1. Kant I. Werkausgabe. Frankfurt: Wilhelm Weischedel, 1968.  
  1. Kant I. Kritik der reinen Vernunft. Hamburg: Raymund Schmidt, 1971.

Die erste Veröffentlichung des Aufsatzes:

Waibel, Violetta L. Transzendental ideal, empirisch real. Kant über Raum und Zeit// Kant zwischen West und Ost. Zum Gedenken an Kants 200. Todestag und 280. Geburtstag. Hrsg. Von Prof. Dr. Wladimir Bryuschinkin. Bd.1. Kaliningrad, 2005. S. 210 – 219.

 


[1] Aus Kant Brief vom 16.11.1781 an Johann Bernoulli wird deutlich, daß mit der vorliegenden Überlegung Lambert gemeint ist: «Der vortreffliche Mann [Lambert] hatte mir einen Einwurf wider meine damals geäußerte Begriffe von Raum und Zeit gemacht, den ich in der Kritik der reinen Vernunft Seite 36-38 beantwortet habe.» Kant, Briefwechsel.  Auswahl und Anmerkungen von Otto Schöndörffer. Mit einer Einleitung von Rudolf Malter und Joachim Kopper und einem Nachtrag, Hamburg (Meiner) 1972 (im folgenden: «Kant, Briefwechsel»), 202.

     [2]Lambert an Kant, 13.10.1770; in: Kant, Briefwechsel, 80; gegen Ende des Briefes wiederholt Lambert die Kritik mit ähnlichen Überlegungen (vgl. ebenda 84). — Lambert setzt sich sehr ausführlich in seiner Briefantwort mit Kants Theorie von Raum und Zeit auseinandersetzt. In Briefen an Marcus Herz vom 21.2.1772 und an Johann Bernoulli, dem späteren Herausgeber von Lamberts Nachlaßschriften und dessen Briefwechsel (16.11.1781) teilt Kant mit, daß er über Lamberts Einwände ausfühlich nachgedacht habe (vgl. Kant an Marcus Herz, 21.2.1772, und an Johann Bernoulli, 16.11.1781; in: Kant, Briefwechsel, 105 und 202/203).

     [3]«Intuitus autem purus (humanus) non est conceptus universalis s. logicus sub quo sed singularis in quo sensibilia quaelibet cogitantur ideoque continet conceptus spatii et temporis; qui, cum quoad qualitatem nihil de sensibilibus determinent, non sunt obiecta scientia, nisi quoad quantitatem. Hinc Mathesis pura spatium considerat in Geometria, tempus in Mechanica pura.» (Ebenda, [1, Bd. 12.  42/44]).