Joseph Kohnen. Königsberger Dichter der Kant-Zeit zwischen Ost und West

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Joseph Kohnen

Ein Blick auf die Landkarte genügt, um zu verdeutlichen, dass Königsberg in geographischer, politischer und kultureller Hinsicht immer eine besondere Stellung einnahm, und übrigens für das heutige Kaliningrad unter veränderten Umständen immer noch das Gleiche gilt. Das weitgehend flache Agrarland war im 18. Jahrhundert arm, wenig bevölkert und wenig entwickelt, und aufgrund eines regen Handels ‑ und Wirtschaftslebens und einer geselligen Weltoffenheit lebte die Hafenstadt am Pregel unweit des Meeres vor allem durch ihre Eigenschaft als Stapel- und Durchgangsplatz. Von der Zentralregierung in Berlin vernachlässigt und dicht vor den Grenzen des russischen Riesenreichs gelegen, dazu seit vielen Jahrzehnten ein Auffangsort von Emigranten aus allen Gegenden Europas, war die im Gegen­satz zu ihrer Umgebung stark bevölkerte ostpreußische Provinzhauptstadt eine ausgedehnte Verwaltungs, Kommerz-, Kultur- und Garnisonsinsel, aus westlicher Sicht die letzte große nördliche Bastion europäischer Zivilisation auf der langen Marschroute nach den Weiten des Ostens. Das ländliche Ostpreußen galt als zurückhaltend, schwerfällig, nachdenklich, jedoch arbeitsam und zuverlässig und bestand aus einfachen Menschen: Bauern, Fischern, Flößern, Händlern, Handwerkern und kleinen Beamten; die im Raume Königsbergs Lebenden aus Handwerkern, Händlern, Verwaltungsleuten, Lehrern, Juristen, Bankiers, Ärzten, Predigern und Professoren, mit einem ausgeprägten Zug zum Nüchtern-Konkreten, zum Originaldenker, zum Schmunzeln und verhaltenen Humor. Der oft mehrsprachige Ostpreuße war, wie Ferdinand Gregorovius betonte: “die reinste Prosanatur Deutschlands”[7, 109]. Räumlich auf sich selbst gestellt, hat die Inselstellung der Stadt im Laufe der Zeiten kollektiv eine nach innen bezogene Gefühls und Glaubenswelt mit einer entsprechenden gesellschaftlich-politischen Selbstbezogenheit entwickelt, in welcher nach den vorhergegangenen Glaubenskämpfen zwischen streitbarem orthodoxem Protestantismus und abgeklärtem Pietismus mit der Aufnahme der meist um ihres Glaubens willen Vertriebenen ein Geist freundlicher Aufgeschlossenheit und Toleranz entstand, der paradoxerweise diesem allmählich zum Schnittpunkt mannigfaltiger Zivilisationen gewordenen Ort, wie Karlheinz Gehrmann formulierte, eine Vermittlerrolle zwischen der Gegenläufigkeit von west-östlicher Kultur und ostwestlicher Machtströmung zugewiesen hat [6, 37].

Merkwürdigerweise haben das schöne, malerische Land mit seinen befestigten Kleinstädten und parkreichen Adelsgütern und die traditionsreiche historische Ordensstadt am Pregel die ausgesprochenen Dichterfiguren nur bedingt begünstigt. Einen ersten, im wesentlichen lyrischen Glanzpunkt hatte es zwar in der ersten Hälfte des 17.Jahrhunderts gegeben. Von den Musikerdichtern Johannes Eccard, Valentin Thilo u.a. ermutigt, hatten sich damals gleichgesinnte dichterische Sänger um das Schloß und den alten Backsteindom zusammengefunden, um schließlich in der städtischen Einsamkeit des kaltfeuchten Nordostens als “Sterblichkeitsbeflissene” der gemeinsamen “Kürbishütte” dem Geheimnis des Todes und dem Gefühl der Freundschaft nachzugehen. Berufsnot, Flucht vor der Pest, Abenteuerlust und Freundschaftsbedürfnis haben die von allen Himmelsrich­tungen her Eingewanderten bis zu ihrem frühen Tod in der Zweitresidenz der Preußenherzöge vereinigt. Der Komponist Johannes Stobäus (1580–1646) stammte aus Graudenz, der hochbegabte Heinrich Albert (1604–1659) aus Lohenstein im Vogtland, Simon Dach (1605-1659) aus Memel, Robert Roberthin (1600–1648) aus Saalfeld. Doch Pest bzw. andere Krankheiten rafften sie sämtlich vorzeitig hinweg, der Dichterkreis zerfiel, und es gab ein Jahrhundert lang keine nennens­werten Nachfolger.

Die mit dem Raume Königsberg in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Berührung gekommenen Namhaften kann man ebenfalls an zwei Händen aufzählen, und nur mit Mühe haben sie sich den Weg in die deutsche Literaturgeschichte erzwungen. Der wesentliche Grund ist hierfür wohl darin zu suchen, dass eben in einer von den großen europäischen Zentren abgelegenen Verwaltungs, Handels und Garnisonsstadt und an einer Universität, wo ausschließlich Theologen, Philosophen, Juristen und Altphilologen den Ton angaben, kein Nährboden für dichterische Höhenflüge gegeben war. Drei Gruppen von Dichtern kann man im ostpreußischen Kulturraum der Zeit unterscheiden. Da waren zum einen jene, meist isoliert Schaffenden, die der genius loci ihr Leben lang festhielt oder die er magnetartig immer wieder in seinen Bannkreis zurückzog. Zum zweiten gab es auswärtige junge, hoffnungsvoll in die Zukunft blickende Studenten, die in einer Universitätsstadt die Entfaltung ihres Talents und womöglich eine solide gesellschaftliche Berufsstellung erwarteten und am Orte das nicht fanden, was sie gesucht haben, und deshalb bald wieder wegzogen. Und drittens sind vereinzelte Einheimische, denen ebenfalls die Albertus-Universität und die gesellschaftlichen Voraussetzungen kein Weiterkommen versprachen, schon früh ausgebrochen, um niemals mehr wiederzukommen, sondern erst in der großen Welt, meist in der westlichen, zu Ruhm und Ehre zu gelangen. Bezeichnenderweise ist übrigens kein einziger wahrhaft bedeutender Schriftsteller, Musiker oder Künstler jemals nach Königsberg gekommen, um dort sein Talent bis zu seinem Lebensende zu betätigen.

Aber wenden wir uns Kant zu. Berühmt ist sein in fortgeschrittenem Alter formulierter Ausspruch in der Vorrede zur Anthropologie:

„Eine große Stadt, der Mittelpunkt eines Reichs, in welchem sich die Landescollegia der Regierung desselben befinden, die eine Universität ( zur Cultur der Wissenschaften ) und dabei noch die Lage zum Seehandel hat, welche durch Flüsse aus dem Inneren des Landes sowohl, als auch mit angränzenden entlegenen Ländern von verschiedenen Sprachen und Sitten einen Verkehr begünstigt, – eine solche Stadt, wie etwa Königsberg am Pregelflusse, kann schon für einen schicklichen Platz zu Erweiterung sowohl der Menschenkenntniß als auch der Weltkenntniß genommen werden, wo diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann“ [11, 120].

Niemand wird leugnen, dass diese Zeilen so richtig zu dem und auf den größten Sohn Königsbergs passen. Doch der genius loci reduziert sich nie auf den Geist und die Schöpfungen einiger bedeutender Köpfe, die an einem Ort gelebt haben. Der Junggeselle Kant war ein gemütlicher, bequemer Mensch. Im täglichen Leben schien er sehr begnügsam; aber er ließ sich von seinem Diener verwöhnen. Das Wort vom “faulen Kant” bezog sich nicht nur auf seine Abneigung gegen Briefschreiben und Gemeinschaftsarbeiten. Vor allem seine von Natur aus schwache körperliche Verfassung hat ihn davon abgehalten, viele und ausgedehnte Reisen zu unternehmen. Doch grundsätzlich behagte ihm das Sesshafte, das Ruhige, Stille, Friedliche, das Gefühl der häuslichen Geborgenheit in der eigenen Studierstube, innerhalb der Stadtinsel und in dieser vom Trubel der Welt verschonten abgelegenen Gegend, wo ein nüchtern pragmatischer Menschenschlag ohne Querulanten, und mit reservierter Heiterkeit begabt, sein Dasein dahinlebte. Alles das genoß er. Einen Hang nach Westen hat er nie besessen; eher neigte er irgendwie nach Osten. Man sagt ihm nach, dass in jungen Jahren eine Reise nach Berlin für ihn beschwerlicher gewesen sei als nach Riga. Sein eigener Bruder ging an die große Stadtschule zu Mitau, und in den siebziger Jahren erhielt er selbst zweimal eine Berufung an die neugegründete Akademia Petrina in der kurländischen Residenz. Sein Bedürfnis nach fremden Ländern, nach den geschäftigen Zentren abendländischer Kultur, seine Neugierde nach außereuro­päischen Zivilisationen blieben sehr beschränkt; ein Westfieber nach Paris, London oder Rom hat ihn nicht erfasst. Daher eine ganze Menge merkwürdiger Ansichten über andere Völker, beispielsweise über die “Negers”, “Chineser” und “Japoneser” [12, 252] in den Beobachtungen, oder in der Anthropologie über die Russen, die er bis ins Alter für rückständig und fremd hielt.[1] In den am Orte sesshaft gewordenen Emigrantenkolonien, insbesondere den Franzosen, Schotten, Engländern, Polen und Schweizern, sowie in den Schiffs ‑ und Handelsreisenden sah er die entfernteren Welten zur Genüge repräsentiert. Genügsamkeit prägte ihn selbst im intellektuellen Bereich: Er besaß wenig Bücher und, Rousseau ausgenommen, den er vollständig hatte, meist bloß philosophische Werke. Was er sonst brauchte, lieh er aus, wobei zu bemerken ist, dass auch die Bibliothek der Albertina kaum 8000 Bände umfasste. Hamann und Lauson allein hatten zeitweilig mehr, und Ersterer war weit belesener als Kant, daher wohl im Vergleich zum “Magus” so wenig Bezüge zu anderen Autoren bzw. Künstlern in Kants Schriften. Selbst innerhalb der Altphilologie galt für ihn im wesentlichen nur Latein. Griechisch wurde in Königsberg ohnehin sehr stiefmütterlich behandelt, und Manfred Lossau hat vor wenigen Jahren darauf hingewiesen, dass Kant selbst Platon und Aristoteles niemals im Original zitiert [24, 65-79]. Sein Geist war prinzipiell nach innen gerichtet, seine Philosophie genügte ihm; er hat sie in erster Linie für sich geschrieben. Nicht umsonst gab er sich in seinen gesellschaftlichen Beziehungen prinzipiell mit Leuten ab, die keine Philosophen waren und vor allem seine Philosophie nicht lasen. Müßig bleibt die Frage, ob er an einem anderen Orte eine andere Philosophie ersonnen hätte [18, 119-138].[2]

Auch die paar Dichter vor dem akademischen Auftreten des Magisters Kant waren wenig bewegliche Stubengelehrte gewesen. Ihr Denken blieb ganz auf den Ort ihres beruflichen Wirkens zentriert. Zu nennen sind vor allem die Brüder Johann George Bock (1698–1762) und Friedrich Samuel Bock (1716–1785), die als akademische Lehrer die Dichtkunst vorwiegend als obligatorische Brotkunst praktizierten; doch priesen beide nicht ohne Lokalstolz die natürlichen und künstlerischen Schönheiten ihrer heimatlichen Gegend. Die Gedichte von J.G. Bock [3] aus dem Jahre 1756 konzentrieren sich ganz auf die Geschichte und die zivilisatorische Bedeutung Ostpreußens und seiner Hauptstadt und gelten bis zum heutigen Tag als kulturhistorisches Dokument. Bock sieht in Ostpreußen ein Juwel der drei fürstlichen Gründerfiguren des Königreichs und in Königsberg, mit seinem Handelspotential und seiner traditionsreichen Universität, ein kulturelles Aushängeschild und Bollwerk Preußens gegenüber Ost wie West. Und doch weiß er um die strategische Verwundbarkeit der Heimat und er ist der Erste, der in dunkler Vorahnung prophetisch vorwegnimmt, was zweihundert Jahre später mit Stadt und Land passieren wird:

 

Noch steht der freye Sitz, dem nicht ein Kriegesbrand,

Der sonst dies Reich verletzt, die erste Blüth entwandt,

Dem kein verdickter Hauch, mit dem die Pest gewittert,

Die Gegend fahl gemacht, den Gipfel abgesplittert.

Der Tempel stehet noch, dem ein verwegner Zank

Dem Osianders Sturm den frühen Untergang

Im Ursprung schon gedroht, als sein gelehrtes Rasen

Mit einem Schein des Rechts, das Unrecht angeblasen.[3, 279]

 

Und wie ein Albtraum klingt es, wenn er die ergreifenden Worte spricht:

Wer weiß, was über dich die Zukunft einst verhängt,

Ob über deinen Schutt nicht noch ein Barbar sprengt;

Ob die Bezirke nicht der jetzt durchhellten Gassen,

Beschmauchte Hütten noch, wie vormals, in sich fassen;

Wer weiß, wie bald die Zeit die Tempel umgekehrt?

Daß da ein Dornstrauch nun den Fluch der Erden nährt,

Daß Molch und Nattern hier die eckle Bruten hecken

Wo Kunst und Handel jetzt die holde Stirn entdecken.[3, 310]

 

Und wie eine Vorwegnahme der späteren Klagen Agnes Miegels klingt es, wenn er beschwörend schließt:

 

Bleib ewig unverletzt du auserwählte Stadt,

Die selbst der Zeiten Arm nunmehr gekrönet hat.

Bleib eine Friedensburg, ein Preis gerathner Jugend,

Ein aufgestellter Thron der unverlaßnen Tugend,

An Redlichkeit erhöht, an Furcht des Herren reich,

Und eine Königsstadt dem Berge Zion gleich,

Mit reiner Lehr umstralt, wodurch zum Ruhm der Erden

Auch Städte dieser Zeit des Himmels Vorstadt werden. [3, 312]

 

Während der russischen Besatzungszeit geriet J.G. Bock allerdings ins Zwielicht der öffentlichen Meinung, weil er die Zarin Elisabeth mit großspurigen Lobhudeleien bedachte. Was den begabten Johann Gottlieb Kreuzfeld (1745–1784), einen engen Freund und Verehrer Hamanns anlangt, so starb er bereits mit 39 Jahren.

Anders dachten kurz vor dem Lehrantritt Kants die blutjungen, anonym schreibenden Herausgeber der Daphne [4] (1749–1750). Kühn, humorvoll und voller Zuversicht blickten die federführenden Johann Gotthelf Lindner (1729–1776), Johann Friedrich Lauson (1727–1783), Johann Georg Hamann (1730–1788), Johann Christoph Wolson (1727–1765), Samuel Gotthelf Hennings (1725–1787), Johann Chris­toph Berens (1729–1792) und Mathias Friedrich Watson (1732–1815) über den Rand ihrer Stadtinsel und ihres abgelegenen Heimatlandes nach Westen. Ohne weltverbessernde Grünschnäbel zu sein, warfen sie den schläfrigen Bürgern Königsbergs vor, weder guten gesellschaftlichen und künstlerischen Geschmack zu besitzen noch fähige Schriftsteller hervorzubringen, sondern angesichts der geographischen Isolation und des fehlenden kulturellen Hinterlands und Echos in einer philiströs-spießerischen Provinzmentalität zu verharren. Und mit erstaunlichem literarischem Wissen hielten sie mit ihren Jugendfreundinnen ihnen den feinen Geschmack, die geistreiche Eleganz und die raffinierten Sitten der Franzosen entgegen, die in ihren Augen das Ideal einer großen Kulturnation abgaben. In diesem Sinne empfahlen sie die Lektüre selbst nur Fachleuten bekannter aufgeschlossener, satirischer Autoren wie Crébillon, d’Argens, Saint-Évremond, Pascal, Mme de Deshouilères, Versac, Meilcourt und Brantome, während sie den Freigeist Voltaire aus religiösen Vorbehalten ablehnten. Lindner sollte sich ab 1755 während zehn Jahren als Rektor der Domschule zu Riga mit seinen berühmt gewordenen Schulneuerungen energisch für das Studium der modernen Sprachen, insbesondere des Französischen, einsetzen, während Watson Rektor der Stadtschule zu Mitau wurde und Berens ein erfolgreiches kaufmännisches Unternehmen in Riga gründete, das geschäftliche und politische Beziehungen bis nach England tätigte. Was Lauson anlangt, so blieb auch er ein Bewunderer französischer Literatur und übersetzte selbst für die Truppe der Caroline Schuch Theaterstücke, u. a. Molières Tartuffe. Andererseits entschied der in jungen Jahren Vielgereiste in fortgeschrittenem Alter, als eingefleischter Hagestolz inmitten seiner Riesenbibliothek in seiner Heimatstadt zu verharren. Als Gelegenheitsdichter und -redakteur verdiente er mehr schlecht als recht seinen Unterhalt mit dem einzigen Ziel, der Lokalpoet vom Dienst zu werden. So verfasste er unzählige Gedichte jeder Art auf seine Vaterstadt, auf die ihn unterstützende Familie des reichen Kaufmanns Saturgus und deren berühmten Wundergarten sowie auf adlige ostpreußische Landgüter, die angesichts ihrer schwachen Qualität heute lediglich dokumentarischen Wert besitzen [20]. Einige sind aber auch heute noch die einzige Quelle, wenn es darum gehen sollte, ehemalige Örtlichkeiten historisch getreu wieder herzustellen.

Eine systematisch kühn in die Praxis umgesetzte Ausstrahlungspolitik von Königsberg her in die große Welt sollten die führenden Verleger, unter ihnen besonders Johann Jakob Kanter, pflegen [18, 1-19]. Dieser abenteuerliche, aber genial begabte Buchhändler war der erste Verleger großen Stils in modernem Sinne. Mitten im Siebenjährigen Krieg kehrte er aus der Wendlerschen Buchhandlung in Leipzig nach Königsberg zurück, um in das väterliche Geschäft in der Altstädtischen Langgasse einzusteigen, wobei er sich von Anfang an mit den Russen politisch und geschäftlich zu arrangieren wusste, was Friedrich II. ihm nach Friedensschluß nie verzeihen sollte. Nachdem der Vater 1764 gestorben war, verlegte er sein Geschäft in das alte Löbenichtsche Rathaus, wo er u.a. eine Lesebibliothek anschloß. Er besaß die Begabung, künftige Buchhändlertalente zu entdecken und entschieden zu fördern. So brachte er den akademisch sehr gebildeten Johann Friedrich Hartknoch davon ab, Theologe zu werden. Dieser sollte in der Folge in der Buchhändlerstadt Riga ein großes Geschäft gründen. Auch Jakob Friedrich Hinz wurde sein Alumne und ließ sich wie Hartknoch im Baltikum, genauer im kurländischen Mitau nieder, wo er eine Kantersche Filiale von W.A. Steidel, einem weiteren Angestellten, übernahm. Ein anderer Gehilfe, Johann Daniel Friedrich, assoziierte sich mit François Théodore de Lagarde, einem aus Königsberg stammenden Buchhändler in Berlin, und führte lange eine Filiale in Libau. Des weiteren fand auch der Kupferstecher Christian Ludwig Stahlbaum den Weg nach Berlin, während Abraham Jakob Penzel, Geograph und Übersetzer des Cassius und Strabo, Buchhändler in Krakau wurde. Wichtig für den Buchhandel war, dass dank Kanter alle diese Jünger Gutenbergs der Freimaurerbewegung angehörten, welche angesichts der kosmopolitischen Einstellung und Solidaritätsgesinnung des Ordens den Büchervertrieb in ganz Europa erleichterte. Kanter selbst war für seine Zeit ein gewaltiger Projektemacher. Er wollte Beziehungen zu sämtlichen Buchzentren Europas, ob in Ost oder West, herstellen und unter seinem Zepter an möglichst vielen Orten Produktions- und Verkaufsfilialen einrichten, wobei er mit seinen vormaligen Angestellten in gutem Einvernehmen blieb. Zuerst zielte er nach Osten. Vom Vater, der die bankrotte Druckerei des Basilius Corvinus Quassowski, einem Mitglied der russisch-orthodoxen Gemeinde, gekauft hatte, erbte er das Privileg, polnische, russische und slawonische Bücher zu verkaufen. Eine wichtige Filiale eröffnete er anfangs in Elbing. Aber er ging auch nach Wien und sogar nach Holland. Die Strecke Königsberg-Leipzig legte er unzählige Male zurück. Im August 1762 nahm er Beziehungen zur kurländischen Residenzstadt Mitau auf und suchte um ein Privileg nach. Danach reiste er nach Sankt Petersburg und beabsichtigte sogar, bis nach Moskau vorzustoßen. Ein weiteres Projekt sollte das Zentrum Königsberg und die verschiedenen Zweigstellen mit einer Berliner Zentralbuchhandlung vereinigen, woraus dann aber nichts wurde. Seine jährlichen Kataloge bescheinigen, dass er bis zum Schluß Bücher aus allen Himmelsrichtungen Europas im Original anpries, ankaufte, auslieh, verlieh und verkaufte. Als der bücherversessene Andrej Bolotow 1758 mit den russischen Besatzungstruppen nach Königsberg kam, glaubte er das Wesen der westlichen Zivilisation in Kanters Buchladen entdeckt zu haben [21, 3]. Vor allem die Firma Hartknoch und Sohn, deren Begründer die von Kanter übernommene Idee der Universalität erfolgreichen Buchhandels konsequent ausweitete, wurde in kultureller Hinsicht das wichtigste östlichste Vermittlungsglied zwischen Russland und Deutschland, das bis nach London, Paris und der Schweiz wirken sollte, wohin Hartknoch häufig gereist ist [18, 145]. Der Vertrieb der Schriften der Freien Ökonomischen Sozietät, der Russischen Akademie, der Ökonomischen Gesellschaft in Sankt Petersburg, der Russischen Bibliothek von Bacmeister, der Arbeiten von Lomonossov, Schlözer und Gadebusch wären im Westen ohne ihn nicht denkbar gewesen. Als Kanters Unternehmen in den achtziger Jahren, da er sich finanziell übernommen hatte, zu fallieren drohte, hat Kant seine bedeutendsten Werke fast nur noch bei Hartknoch veröffentlicht. Wie dem auch sei: Kein anderer hat in jener Zeit wie Kanter eine großangelegte intellektuelle Wechselwirkung in Bewegung zu setzen vermocht, die einerseits darauf hinzielte, von der Stadtinsel am Pregel her in die große Welt hinauszustrahlen und andererseits die bedeutendsten europäischen Kulturen nach der Hauptstadt Ostpreußens herzuholen. Wie ein symbolisches Zeichen mutet es an, dass das berühmte Kant-Porträt von Becker, das einst in seinem Laden hing und von der Nachfolgefirma Gräfe und Unzer als einziges bedeutendes Originalstück aus dem brennenden Königsberg gerettet wurde, heute im Schiller-Nationalmuseum in Marbach gezeigt wird.

Was Kanter in großzügigem Stil aus geschäftlicher Sicht versucht hat, vollzog Johann Georg Hamann auf rein geistiger Ebene durch seine alleinige Person. Eigentlich hatte der “Magus” so manches ge­meinsam mit Kant: Er war geboren in Königsberg, stammte aus be­scheidenem, frommem Elternhaus, liebte seine Heimatstadt, die lokale Geborgenheit und die gesellige provinzielle Atmosphäre mit einem gemütlichen Hang zum Junggesellenleben, blieb lange Zeit in vorsichtiger Distanz zum andern Geschlecht und war von frühen Jahren an der Lektüre und dem philosophischen Grübeln zugewandt. Damit hören allerdings die Parallelen auf. Denn der häusliche Hamann war paradoxerweise zugleich ein in höchstem Maße unruhiges, zutiefst sinnliches und abenteuerliches Temperament und ein kosmopolitischer Denker. Als Universalgelehrter war er prinzipiell jeder Entdeckung, jedem Wissen aufgeschlossen. Als tiefgläubiger Mensch und Wahrheitssucher, der in Gott einen “Schriftsteller” sah [14, 27], in dessen Buch der Welt die Kreatur zu lesen habe, um seit dem Sündenfall buchstabierend wieder zum Ursprung zurückzufinden, versuchte er sowohl mit Kopf als mit Gemüt möglichst viel von dessen Schöpfung zu erfassen. Daher im Vergleich zu Kant eine private Riesenbibliothek, in der viele Literaturen und Kulturen vertreten waren, der gründliche Erwerb der bedeutendsten Sprachen des Altertums wie der Gegenwart bis zum Arabischen, das einfühlsame Verständnis der Alten, der Bibel, der französischen, englischen und italienischen Literatur und Philosophie, die kritische Haltung gegenüber den theologischen und philosophischen Strömungen und Überlegungen nach allen Seiten hin und schließlich ein gut entwickelter Sinn fürs Musikalische. Von kränklicher Konstitution wie Kant, scheute er dennoch aus intellektueller Neugierde weder Mühe noch Gefahren, um ausgedehnte Reisen nach Osten wie nach Westen zu unternehmen und fremde Länder und Kulturen zu erfassen. In den fünfziger und sechziger Jahren pendelte er aus beruflicher Not andauernd im Baltikum herum und hatte oft den Eindruck, “andauernd in Russland” zu sein; nicht umsonst fand er in England zu seiner “Bekehrung”, und symbolhaft mutet es an, dass er als Pilger zur Wahrheit auf einer Reise zu Gleichgesinnten in fremdem Land im westfälischen Münster starb und dort seine letzte Ruhestätte fand, dicht an einer Stadtautobahn und einem banalen Parkplatz, wo er heute von morgens bis abends die Abgase moderner Motoren einzuatmen hat! Scharf und kritisch im Denken wie Kant, Lessing oder der verhasste Voltaire, humoristisch, satirisch und selbstironisch, vermittelte er Aufklärung über die Aufklärung, auch die politischen Verhältnisse mutig in Frage stellend. Aber sein glaubensbedürftiges, christozentrisch orientiertes Herz empfand konkreter als Kant, emotionsgeladen, vergleichend amüsiert Widersprüche in Kauf nehmend, Verstand und Vernunft mit Misstrauen begegnend und dafür wie ein poetischer Seher ahnungsvoll den göttlichen Urgrund hinterfragend. Jean Paul hat ihn zutiefst bewundert. Hamanns Seele und Freundschaftsgefühl gehörte Königsberg, aber sein Geist verstand sich überall anzupassen, war prinzipiell überall zu Hause. Es muß einmal gesagt werden: Kant strahlte von Königsberg aus als der größte Denker, aber Hamann war eigentlich am selben Ort der Universalgeist des deutschen 18.Jahrhunderts! So ist auch zu verstehen, dass er wie kein anderer Kants großartiges Gedankengebäude in Frage zu stellen vermochte, Kant selbst jedoch – und es hat ihn insgeheim gewurmt – es niemals so recht wagte, sich dieser Kritik zu stellen. Enge Freunde wurden sie nie!

Sozusagen zwischen beiden stand Theodor Gottlieb von Hippel (1741–1796), sowohl als persönlicher Freund als auch geistesgeschichtlich. Dieser kam aus dem Herzen Ostpreußens und blieb immer ein Ostpreuße. Wie Kant war er sesshaft veranlagt. Nur zwei größere Reisen unternahm er im Leben: eine in jungen Jahren nach Petersburg, wo man ihm eine glänzende Karriere in Aussicht stellte, die er zögernd ablehnte, und eine Dienstreise in gesetzten Jahren nach Berlin und Sachsen; das war alles. Aus beruflichen Gründen verankerte er sich mit der Zeit ganz in seiner Provinzhauptstadt, stieg als ehrgeiziger Dirigierender Bürgermeister auf, zum angesehensten, aber auch gefürchtetsten Mann der Verwaltung, die er eisern im Griff hatte, und begnügte sich wie Kant, Kraus, Hamann und Lauson mit dem vorhandenen gesellschaftlichen Angebot. Auch er besaß als königlicher Spitzenbeamter, als Lokalpolitiker, Jurist, Richter und Freimaurer einen scharfen Verstand, eine ungemein präzise Rede- und Formulierungsgabe und ein bemerkenswertes Organisationstalent. Und schließlich blieb auch er unverheiratet, begegnete jedoch dem weiblichen Geschlecht wie Kant mit ausgesuchter Vornehmheit. Andererseits empfand auch er eine Art geheimen Fernwehs nach dem Osten, zum Baltikum, zu Lettland und Kurland, und vor allem zum 9europäischen Russland. Der genius loci ließ ihn nicht fort, aber auch seine Persönlichkeit selbst hat mehr, als man bisher wahrhaben wollte, den genius loci zur Zeit Kants mitgeprägt [16]. Doch in krassem Gegensatz zu Kant, und in tiefgründender, wenn auch verhaltener Seelenverwandtschaft zu Hamann litt sein Wesen unter dem Zwiespalt von Rationalismus und pietistisch gefärbtem Gottesbedürfnis. Kein Königsberger hat jemals vor und nach ihm sosehr gegen den Tod und um die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit gerungen wie er. Daher ebenfalls, wie bei Hamann und Lauson, jene weitgefächerte Belesenheit und Kenntnis insbesondere des europäischen Erbes der Antike und der Renaissance, aber auch der französischen, englischen und italienischen Dichter, Philosophen, Theologen und Juristen des 17. und 18.Jahrhunderts, ein prinzipielles Misstrauen den bloßen Gaben des Verstands und der Vernunft gegenüber, eine temperamentvolle Aggressivität gegenüber dem vermeintlich Bösen, dem Minderwertigen in Politik und Gelehrsamkeit. Seine grundsätzliche Aufgeschlossenheit in pragmatischer Hinsicht veranlasste ihn zur geistigen und konkreten Betätigung auf allen möglichen Gebieten, wobei sein Wirken einerseits direkt lokal und regional gebunden blieb, andererseits sich auf die großen Fragen der Menschheit ausweitete. So gehört in den Lebensläufen nach aufsteigender Linie , den Kreuz- und Querzügen des Ritters A bis Z und den Handzeichnungen nach der Natur seine Liebe der Heimatstadt und der Landschaft Ostpreußens mit ihren gesellschaftlichen, kulturellen, politischen und erzieherischen Problemen, in Briefen und Autobiographie hingegen den beiden großen Staats- und Militärmächten des europäischen Ostens, nämlich Preußen und Russland, die er mit ihren überragenden Herrscherfiguren objektiv auf Vor- und Nachteile hin miteinander vergleicht. Seit seiner Jugend schwankte er diesbezüglich zwischen seiner Treue und Anhänglichkeit an das kleine, aber verwaltungstechnisch, juristisch und militärisch straff organisierte und vom Fortschrittsglauben beseelte Königreich Preußen und der Bewunderung für die gewaltige, mit einem “rohen Erdenkloß” vergleichbare, “zu Soldaten ” erkorene russische Nation [10, 151] mit ihrer vorbehaltlosen Heimatliebe, die sich erst in der “ersten Stärke” befinde und Europa und die Weltgeschichte erschüttern werde, wenn sie einmal richtig aufgewacht sei und besonders vielleicht den Preußen “zu schaffen machen” würde [10, 115-119]. Allerdings sieht er in der Ausdehnung des russischen Staatsgebildes etwas beinahe Widersinniges und glaubt wie Friedrich II. die Ahnung zu haben, dass dieser Staat seiner eigenen Größe erliegen könnte: “Es ist gewiß nicht der erste, der durch seine Größe klein geworden. Der Goliath und der kleine David sind mir immer im Kopfe, wenn ich Rußland und den preußischen Staat vergleiche”[10, 121]. Dahingegen ruft der Held Alexander, der in den Lebensläufen in russische Militärdienste tritt, bezüglich Friedrichs II. und Katharinas II. mit Begeisterung aus: “Wenn diese Monarchin mit dem Könige von Preußen ein Paar worden: Welt! was meinst du?” [22, 256] Immer wieder stellt er nach der Lektüre Rousseaus und nach den Experimenten der parlamentarischen englischen Monarchie und der jungen amerikanischen Demokratie die Frage nach der idealen Staats und Regierungsform, wobei er im Hinblick auf eine universal verbesserte Menschheit in ferner Zeit zwar einer wahrhaft aufgeklärten Monarchie seine Sympathien schenkt, grundsätzlich jedoch weitgehende demokratische Entwicklungen in westlichem Sinne miteinbeschließt und die republikanische Staatsform nicht ausschließt. In diesem Zusammenhang spricht er dem Freunde Kant und dessen Schüler Kraus, die auch von der Französischen Revolution nichts verstanden hätten, jedes echte politische Verständnis ab, so dass sie nicht einmal im Stande seien, “einen Hühnerstall” zu regieren [22, 275]. Auch in der Frauenfrage überträgt sich sein Denken auf das Feld des universal Gültigen, indem er im Buch Über die Ehe und in der Abhandlung Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber die kühnsten gesellschaftlichen, psychologischen, und beruflichen Refor­men fordert, die erst in unserer Zeit in die Praxis umgesetzt worden sind. Ein Ähnliches gilt für den Geist seiner zahlreichen juristischen und verwaltungstechnischen Abhandlungen. Und durch konkrete Neuerungen in seiner Stadt hat er das Armen, Waisenhaus, Schul, Polizei und Feuerlöschwesen in westlichem Sinne reorganisiert in Einrichtungen, die bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ihre Gültigkeit behielten. So ist dieser Popularphilosoph, der mit Hamann der Erkenntnisphilosophie Kants, wie die satirische Examinierungsszene im 2. Band der Lebensläufe  zeigt, mit Skepsis gegenüberstand [22, II, 139], und westeuropäischem Denken viel wirklichkeitsnäher und tributpflichtiger war, von Königsberg aus ungeachtet der örtlichen und regionalen Umstände ein Weltbürger in modernem Sinne gewesen.

Ein Ähnliches erstrebte sein langjähriger Seelenfreund Johann George Scheffner (1736–1820), doch blieb dieser oberflächliche, seelischen Tiefgangs entbehrende Vielschreiber in jeder Hinsicht hinter ihm zurück. Scheffner liebte Königsberg nicht, verschmähte ebenfalls das Reisen und verbrachte als ein vom materiellen Glück Begünstigter fünf Sechstel seines Daseins auf seinen Landgütern auf dem Stolzenberg bei Danzig, dann in Sprindlack, Eberswalde und Taplacken, um erst 1795 als angesehener Lokalpatrizier in die Stadt zurückzukehren und das Alter mit hochgestellten Gleichaltrigen zu verbringen. Er war sehr belesen in antiker und geistreicher französischer Literatur, u.a. im Montaigne und den Dichtern der préciosité, die er, vorwiegend den Jean-Baptiste-Joseph Villart de Grécourt (1683–1743) nachahmend, dazu benutzte, um eine Lawine seichter zotenhafter Gedichtbände in spaßhafter Selbstzufriedenheit anonym auf den Markt zu bringen [17, 159-193]. Daneben versuchte er nicht ohne Wichtigtuerei im Umgang mit namhaften aufklärerischen Zeitgenossen, u.a. auch mit Kant, der ihm gegenüber höflich distant blieb, als eine Art “Nebensonne” auf die Nachwelt überzugehen [27, 370-377].

Es bleiben die Ausgebrochenen. Drei sind da vor allem zu nennen: Johann Friedrich Reichardt, Johann Gottfried Herder und Jakob Michael Reinhold Lenz. Alle drei waren sie in ihrer Jugend vorbehaltlose Verehrer Kants, aber auch der russischen Nation, deren vermeintlich aufgeklärten Herrscherfiguren sie in politischer Unwissenheit tiefgrei­fende Neuerungen zutrauten. “Dem Herrn. Prof. Kant einzig und allein”, so gesteht Reichardt, “verdank ich’s, dass ich von meinen frühsten Jugendjahren an, nie den gewöhnlichen erniedrigenden Weg der meisten Künstler unserer Zeit betrat, und seinem akademischen Unterricht, den er mir früh ganz aus freiem Triebe, antrug, und drey Jahre auf die alleruneigennützigste Weise gab, dank ich das frühe Glück, die Kunst von Anfang aus ihrem wahren, höhern Gesichtspunkte beachtet zu haben und nun das größere Glück, seine unsterblichen Werke mit Gewinn studiren zu können [28, 24].“ Doch der abenteuerliche, unstete Charakter fand in seiner ihn langweilenden Heimatstadt wie auch an der Albertina nichts, was seine ureigenste Begabung, nämlich die Musik, gefördert hätte. Kant allein vermochte nicht, ihn am Orte zu halten. Nach vielen Irrwegen durchs Baltikum und Polen schlug er sich entschieden durch nach Westen, wo er schließlich zu sich selbst fand und lange Zeit eine glänzende Karriere als Kapellmeister genoß. Daneben hat er auch stets gedichtet. Aber er hat nie in Königsberg dirigiert.

Ähnliches erfuhr der junge Herder. Im Alter von kaum 17 Jahren traf der ebenfalls äußerst schwierige Schüler Sebastian Friedrich Treschos im Mai 1762 aus Mohrungen mit hochfliegenden Erwartungen in der Provinzhauptstadt ein; am 22.November 1764 verließ auch er zutiefst enttäuscht den ungeliebten Ort, und zwar für immer, begleitet durch das Roßgärter Tor von Hamann. Auch er war vom Unterricht Kants fasziniert, und er fand im “Magus” einen seelenverwandten Freund und Mentor, der ihm seine wahre Begabung als Wahrheitssucher und Dichter entdeckte. Doch auch ihm genügten die beiden so unterschiedlichen Größen nicht, um ihn im hohen europäischen Osten zu halten. Sie waren nur die entscheidenden Vordenker, Lehrer, Ratgeber und Wegweiser; seinen Weg mußte er allein gehen. Was er am Ende wurde, wurde er in weitgehender Unabhängigkeit von ihnen in westlicher gelegenen Gegenden und Kulturen! Glücklich wurde er dabei so wenig wie Reichardt.

Und auch dem Dritten erging es nichts anders. Der livländische Pastorensohn Lenz suchte ebenfalls innerlich schon früh zerrissen ab 1768 an der einzigen ostpreußischen Landesuniversität seine Bestimmung zu entdecken und vertändelte drei Jahre als fauler, naïver Student unter lärmenden, trinkenden Landsleuten. Auch er erkannte im noch jungen Kant das Ausnahmegenie und verglich ihn voller Regionalstolz mit den zahllosen berühmten Gestalten der französischen Geistesgeschichte [23, 117-121]. Dann drängte auch ihn ein abenteuerliches, ungestümes Temperament nach eben jenem Frankreich und eben diesem selben Weimar wie Goethe und Herder, um ihn ergebnislos immer wieder ziellos nach dem Osten zurückzutreiben, wo er schließlich in Moskau elend zugrunde ging.

Geistig und seelisch blieben sie alle drei letzten Endes heimatlos. Weder der gewaltige Geist, von dem das moderne Denken seinen Anfang genommen, noch der geniale poeta vates auf dem Wege zum göttlichen Urgrund haben ihnen den inneren Frieden des wahrhaft Weisen vermittelt; das übrige Europa allerdings eben so wenig. Und Königsberg ist für sie lediglich ein Ausgangs- bzw. Durchgangsort gewesen.

Den alternden Kant begleitete schließlich noch eine zweite Gene­ration. Aber diese hat der in seinen körperlichen wie geistigen Kräften nachlassende Albertinagelehrte nicht mehr so richtig beeindrucken können, genauso wenig wie die übrige Belegschaft der Universität, die gegen Ende des aufgeklärten Jahrhunderts stark im Niedergang begriffen war. Da war zuerst der mit zwanzig Jahren schon erblindende Ludwig von Baczko (1756–1823), den sein körperliches Handikap bis zum Lebensende an Ort und Schreibstube fesselte. Mühsam erarbeitete sich der vom Leben und der Gesellschaft Verbitterte wie sein Schicksalsgenosse Conrad Pfeffel in Colmar mit Hilfe Dritter ein ungeheures Wissen. Im jovialen Hamann fand er einen verständnisvollen Freund, während er bei den seinen Umgang meidenden Lokalgrößen Hippel und Kant die Verachtung seines Invalidentums zu erraten glaubte. Gefühlsmäßig blieb er in seiner Heimat verwurzelt, intellektuell ein scharf kritisch eingestellter Spätaufklärer, dichterisch ein auf die sich langsam entfaltende Romantik hin Orientierter, ein Erbe des ausklingenden Jahrhunderts sowohl als auch ein Ahnender der kommenden Zeit. Als Historiker und Autobiograph leistete er trotz seiner Blindheit zu Ostpreußen und Königsberg geradezu Erstaunliches [2], als Epiker schrieb er einige der kühnsten gesellschaftskritischen Romane in Deutschland [5] und als Novellendichter eine große Zahl phantastischer Kurzgeschichten im Sinne Hoffmanns. Als Universalgelehrter in ewiger Nacht bewies der körperlich zur Unbeweglichkeit Verurteilte, dass Geist und Phantasie nicht zu reisen brauchen, um überall zu Hause zu sein.

Dem Genius loci verfallen war aus anderen Gründen auch Johann Michael Hamann, der Sohn des “Magus”. Der Vater hatte ihn buchstäblich von Kindsbeinen auf getrimmt zum Sprachenerwerb und zur Lektüre der Lateiner, Griechen und des Hebräischen. Er wurde dann auch später ein ausgesprochener Schulmann, am Ende sogar Vorsteher der traditionsreichen Lateinschule der Altstadt. Seine besondere Liebe galt jedoch der lyrischen Poesie, die er in Königsberg trotz gegenteiliger Behauptungen als Erster zu echter Meisterschaft gebracht hat. Ja, er ist bis zu Agnes Miegel zweifellos der bedeutendste Lyriker Königsbergs gewesen [9]. Auf die große Welt war sein Geist nicht gerichtet, schon gar nicht nach Westeuropa und dessen Kulturen. Lediglich begleitete er den Vater nach Münster, wo dieser dann starb. Von Jugend auf zog es ihn wie den Vater mit der Hilfe der angesehenen Grafenfamilie von Keyserlingk als Hofmeister nur nach dem Baltikum, insbesondere nach Kurland, und danach strebte er in die Heimatstadt zurück, wo er bis zu seinem frühen Tode mit seiner großen Familie blieb. Im Gegensatz zum “Magus” wurde er kein Aufgeklärter, kein Philosoph, kein Sokrates, Diogenes oder Pan, kein poeta vates, der im Buche der Natur lesen und lernen konnte, sondern in ratloser Distanz zum schweigenden Gott nur ein bescheidener, vor dem Leben resignierender Sänger. Sein Denken und Fühlen identifizierte sich mit der Stille der landschaftlichen Weiten an der Ostsee, die er teils als verspäteter Anakreontiker, teils als Nachfahre der Dachschen Kürbishütte in tief melancholischen, todestrunkenen Phantasien besungen hat.

Ebenso schwerblütig, aber innerlich furchtbar zerrissen und von provokativem, abenteuerlich egozentrischem, ungemein sinnlichem Temperament gequält, wußte der gleichaltrige Zacharias Werner, Sohn eines angesehenen Juraprofessors und einer krankhaft vom religiösen Wahn besessenen Mutter, weder mit seinem Jurastudium noch mit seinen Lehrern Kant und C.E. Mangelsdorff etwas anzufangen. Von einem Skandal in den anderen verfallend, wurde er schon in jungen Jahren aufgrund seines zügellosen Lebens aus der Heimatstadt regelrecht ausgebürgert, um trotz seines tiefen Hangs zu den düsteren, geschichtsträchtigen Weiten des Nordostens [19] in allen möglichen Gesellschaftsschichten, Religionen, Freimaurerbewegungen und politischen Strömungen Mitteleuropas vergeblich sein Heil zu suchen, ein typischer Vertreter der angehenden Romantik, für den in der Stadt am Pregel kein Platz sein konnte.

Und auch der letzte Namhafte zog früh weg. Berufszwänge, innere Unruhe und der Drang zu einer noch unbekannten, höheren Bestimmung zogen ebenfalls das Universalgenie E.T.A. Hoffmann nach Westen, in die neue Welt romantischen Fühlens und Sehnens. Dort wurde er ein angesehener Jurist, ein bedeutender Dirigent und Kom­ponist und schließlich ein Prosaerzähler von Weltruhm, der Einzige dieser Art, den Königsberg je hervorgebracht hat, ohne dass die Heimat jemals so richtig – einige heute schwer identifizierbare Jugendreminiszenzen ausgenommen – an seiner Entfaltung teilgenommen hat. Nicht einmal die herrliche Erzählersprache verdankt er Königsberg. Auch er hat wie Reichardt niemals in seiner Heimatstadt dirigiert!

Das Königsberg Immanuel Kants, in anderen Worten: die Glanzzeit der Stadt am Pregel während der letzten vierzig Jahre des aufgeklärten Jahrhunderts, zeigt ein vielfarbiges Mosaik unterschiedlichster Individualitäten. Sogenannte Gruppen, Strömungen und Schulen gab es dort nicht. Die starken Geister entwickelten sich dort mehr oder weniger allein; das hat immer den Charme dieses Orts ausgemacht. Aber dieser Umstand hat es den Betroffenen auch immer schwer gemacht. Das Paradox der geographischen Kulturinsel und dennoch geschäfts- und handelstüchtigen Weltoffenheit erlaubte mehr als anderswo je nach Biographie, Bedarf und Temperament alle möglichen Entwicklungswege; aber der Ort war nur bedingt imstande, diese Perspektiven vollauf zu fördern bzw. zur Reife zu bringen. Das Beispiel Kants und Hamanns belegt, dass einzelne Übergroße, was immer man dagegen vorbringen mag, immer nur durch und für sich selbst wirken und weitgehend nicht vermögen, andere entscheidend festzuhalten, dasje­nige alleinige des anonym schreibenden Hippel, dass nur wenige in der geistigen Isolation und Eigenbrötelei wahrhaft Großes, die Zeiten Überdauerndes oder erst in später Zukunft zu überregionalem Verständnis Gelangendes erzeugen könen. Königsberg war nicht Paris, London, Rom, Berlin, Petersburg oder Moskau und konnte es nie werden; es war und wurde auch kein Weimar! Schon das Tagebuch von Johann Abegg beleuchtet [1], wo die Stadt um die Jahrhundertwende in ihrer intellektuellen Begrenzung wirklich stand, und ein erst in rezenter Zeit veröffentlichter Briefwechsel zwischen Rudolf Unger und Arthur Warda bestätigt, dass noch ein gutes Jahrhundert später sich wenig verändert hatte [13]. In diesem Sinne hätte das heutige Kaliningrad wahrhaftig – wieder irgendwie paradox – eine einzigartige historische Chance, damit Agnes Miegels Wort seine Gültigkeit behalte: “Und dass Du, Königsberg, nicht sterblich bist!“ [25,119, 257]

Literatur.

  1. Abegg J. Reisetagebuch von 1798. Erstausgabe., Frankfurt am Main: von Walter und Yolanda Abegg in Zusammenarbeit mit Zwi Batscha Insel Verlag, 1976.
  2. Baczko L. V. Versuch einer Geschichte und Beschreibung der Stadt Königsberg. Kgsbg.: 1787. 2. Aufl. 1804; Geschichte Preußens. 6 Bde. Kgsbg. 1792–1800 u.a.m.; Geschichte meines Lebens. 3 Bde. Kgsbg. 1824; dazu die Herausgabe einer Reihe von Zeitschriften wie das Preußsche Tempe (1780–1782); das Preußische Magazin (1782); die Annalen des Königreichs Preußen (1792–1793) und das Wochenblatt für den Bürger und den Landmann (1795–1796).
  3. Bock J. G. Gedichte. Königsberg, druckts und verlegts Johann Heinrich Hartung, 1756.
  4. Daphne. Nachdruck der von Johann Georg Hamann. Johann Gotthelf Lindner u.a. herausgegebenen Königsberger Zeitschrift (1749–1750). Bd. 15. Frankfurt a. M., Bern, New York, Paris, 1991.
  5. Elbing K. von A. Die akademischen Freunde. Eine Geschichte in Briefen. Kgsbg., Leipzig: Hartung, 1783.
  6. Gehrmann K. Kant und Königsberg. Im Gedenken an Kurt Stavenhagen. // Ostbrief, Lüneburg, 1955. ( Mitteilungen der Ostdeutschen Akademie Lüneburg ).
  7. Gregorovius F. // Ostpreußen in 1440 Bildern. Geschichtliche Darstellungen von Emil Johannes Guttzeit. Verlag Gerhard Rautenberg, 1996.
  8. Guinet L. Zacharias Werner et l’ésotérisme maçonnique. Thèse Lettres. Paris, Caen 1961. Abegg J. Reisetagebuch von 1798. Erstausgabe. Frankfurt am Main: Insel Verlag, 1976.
  9. Hamann J. M. Gedichte. Nachdruck der Erstausgaben. Mit einem Nachwort von Joseph Kohnen in Zusammenarbeit mit Reiner Wild. Frankfurt a.M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien, 1993.
  10. Hippel T. G. Autobiographie // Sämtliche Werke. Bd. XII. Berlin: Georg Reimer, 1828.
  11. Kant I. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht // Kant. Gesammelte Schriften. Hrg. von der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin und Leipzig 1900–1955. Abth.: Werke. 7. Bd. 1917.
  12. Kant I. Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, Vierter Abschnitt // Kant’s gesammelte Schriften, Werke, Bd. II, Vorkritische Schriften II, Berlin 1912, S. 252ff.
  13. Knoll R. Johann Georg Hamann 1730–1788. Quellen und Forschungen // Schriften der Universitätsbibliothek Münster. Bonn: Verlag Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, 1988.
  14. Kohnen J. Andrej Bolotows Königsberg-Aufzeichnungen (1758–1762) im Blickfeld der ostpreußischen Literaturgeschichte // Publications du Centre Universitaire de Luxembourg. Luxemburg, 1994.
  15. Kohnen J. Hippels Russland-Bild // Königsberger Beiträge.
  16. Kohnen J. Theodor Gottlieb von Hippel. Eine zentrale Persönlichkeit der Königsberger Geistesgeschichte. Biographie und Bibliographie. Lüneburg: Nordostdeutsches Kulturwerk Verlag, 1987.
  17. Kohnen J. Theodor Gottlieb von Hippel. Eine zentrale Persönlichkeit // Lyrik in Königsberg. 1749–1799. Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach und Literaturwissenschaft. Frankfurt a.M.,  Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2000.
  18. Königsberger Beiträge. Von Gottsched bis Schenkendorf. Herausgegeben von Joseph Kohnen, Peter Lang, Frankfurt a.M., Berlin, Bern, Bruxelles, Oxford, Wien, 2000.
  19. Kozielek G. Zu Leben und Werk Zacharias Werners. Breslau, 1963. Das dramatische Werk Zacharias Werners, Breslau 1967; Louis Guinet: Zacharias Werner et l’ésotérisme maçonnique, Thèse Lettres, Paris, Caen 1961; La Haye,Paris 1962; ders.: De la Franc-Maçonnerie au Sacerdoce ou La Vie romantique de Friedrich Ludwig Zacharias Werner (1768–1823). Etude biographique. Thèse complémentaire, Paris 1961 ; Caen 1964 ; Goedeke, VI, 90-95 ; ADB, 42, S. 66-74.
  20. Lauson J. F. Erster und Zweeter Versuch in Gedichten. Königsberg, 1753.
  21. Leben und Abenteuer des Andrej Bolotow von ihm selbst für seine Nachkommen aufgeschrieben. Bd 1. Leipzig: Verlag C.H. Beck, 1989.
  22. Lebensläufe nach aufsteigender Linie. SW IV, II.
  23. Lenzens Gedicht auf Kant // J.Kohnen: Lyrik in Königsberg.
  24. Lossau M. Klassische Philologie an der Albertina zur Zeit Kants. In: Königsberg. Beiträge zu einem besonderen Kapitel der deutschen Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts. Begründet und herausgegeben von Joseph Kohnen. Peter Lang, Frankfurt a.M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien, 1994.
  25. Miegel A. Abschied von Königsberg // Sem Simkin: Swjet tuy jedinstwjennuj/ Du mein einzig Licht. Gedichte Königsberger Dichter. Kaliningrad 1993.
  26. Plehwe A. Johann George Scheffner. Königsberg, 1936.
  27. Schneider F.J. Theodor Gottlieb von Hippel in den Jahren von 1741 bis 1781 und die erste Epoche seiner literarischen Tätigkeit. Prag: Taussig und Taussig, 1911.
  28. Walter S. Johann Friedrich Reichardt. Komponist, Schriftsteller, Kapellmeister und Verwaltungsbeamter der Goethezeit. Freiburg i.Br. und Zürich, 1963.
  29. Warda A. Der Anlaß zum Bruch der Freundschaft zwischen Hippel und Scheffner// Altpreußische Monatsschrift. 1916.
  30. Zacharias W. F. L. Sein Weg zur Romantik // Das dramatische Werk Zacharias Werners. Breslau, 1967.

Die erste Veröffentlichung des Aufsatzes:

Joseph Kohnen. Königsberger Dichter der Kant-Zeit zwischen Ost und West // Kant zwischen West und Ost. Zum Gedenken an Kants 200. Todestag und 280. Geburtstag. Hrsg. Von Prof. Dr. Wladimir Bryuschinkin. Bd.2. Kaliningrad, 2005. S. 293 – 310.


[1]     “Da Russland das noch nicht ist, was zu einem bestimmten Begriff der natürlichen Anlagen, welche sich zu entwickeln bereit sind, erfordert ist […]”[11, 252].

[2]      „…eine große Stadt, der Mittelpunkt eines Reichs…“ oder: „Kommt das Licht aus Königsberg?“ [17, 119-138].