Jürgen Stolzenberg. Kant und die Medizin

Jürgen Stolzenberg

Jürgen Stolzenberg

Immanuel Kant ist Zeit seines Lebens nie ernstlich krank gewesen. Als er am 12. Februar 1804, etwas mehr als zwei Monate vor Vollendung seines 80. Lebensjahres starb, da war es, wie sein Biograph Wasianski schreibt, „ein Aufhören des Lebens und nicht ein gewaltsamer Akt der Natur“ (W 291). Dieses Leben war in den letzten Jahren zunehmend beschwerlicher geworden. Das völlige Fehlen der Zähne, Verstopfung, Schwierigkeiten beim Wasserlassen, der Verlust des Geruchs- und Geschmackssinns, der zunehmende Verfall der Kräfte des Körpers und des Geistes ließen in Kant den Wunsch zu sterben aufkommen. Öfters klagte er, er könne der Welt nicht mehr nützen und wisse nicht, was er mit sich anfangen solle. Unter dem 24. April 1803 – zwei Tage nach Vollendung des 79. Lebensjahres – findet sich in seinem Notizbuch die folgende Eintragung: „Nach der Bibel: Unser Leben währet 70 Jahr und, wenn’s hoch kommt, 80 Jahr und wenn’s köstlich war, ist es Mühe und Arbeit gewesen.“ (Kühn 484, Wasianski, 265) Kants Leben ist Mühe und Arbeit gewesen, und so ist es denn auch wohl ein köstliches Leben gewesen.

Für das Thema Kant und die Medizin scheint Kants äußere Biographie somit ganz unergiebig zu sein, und so hätte man sich weniger an Kants Leben als an seinem Werk zu orientieren. Aber auch hier sprudeln die Quellen nicht gerade reichlich. Ein eigenständiges systematisches Werk zu Fragen der Medizin aus der Feder Kants gibt es nicht. Zu nennen ist nur Kants letztes Werk, der Streit der Fakultäten aus dem Jahre 1798. Hier äußert sich Kant unter anderem zur Bedeutung und Stellung der Medizinischen Fakultät unter den Fakultäten der Universität. Mit subtiler Ironie räumt Kant der Medizin eine Sonderstellung ein, wenngleich nur „dem Naturinstinkte nach“; „nach der Vernunft“ wäre die theologische Fakultät an die höchste Stelle zu setzen, gefolgt von der juristischen und medizinischen Fakultät.[1] Vor der Jurisprudenz und der Theologie komme der Medizin ‚dem Naturinstinkte nach’ insofern eine Sonderstellung zu, als es der Arzt sei, der „dem Menschen sein Leben fristet“, während der Jurist ihm nur das „zufällige Seine zu erhalten verspricht“ und der Geistliche, der zwar in der letzten Stunde um Beistand angerufen wird, doch selber des Arztes bedarf, um ihm das Leben zu erhalten, ein Leben, das er um der „Glückseligkeit in einer zukünftigen Welt willen“, die er zwar preist, von der er hier auf Erden aber gar nichts vor sich sieht, nicht bereit ist hinzugeben, von dem er vielmehr wünscht, dass es ihm „in diesem Jammertale“ noch einige Zeit erhalten bleibe. (SF A 14)

In Kants letztem Werk finden sich denn auch – mit einer gewissen „Sprachseligkeit“ des Alters, wie Kant einräumt und für die er sich entschuldigt –, als Antwort auf die Abhandlung eines der berühmtesten Ärzte seiner Zeit, Christoph Wilhelm Hufelands Makrobiotik oder die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern, seine Vorstellungen über die Pflege und die Erhaltung der Gesundheit, wie die Vorteile der Nasenatmung zur Verhütung von Hustenkrankheiten und die streng bemessene Dauer des Schlafs. Das, was der alte Kant hier im Sinne einer aufgeklärt-vernünftigen Diätetik empfiehlt, das ist nicht nur durch die seit der Antike bekannten Regeln für eine gesunde Lebensführung sozusagen gedeckt, das konnte Kant selber gleichsam durch die Tat, und das heißt, durch seine eigene Lebensführung und das erreichte hohe Alter als bewiesen ansehen. Überdies hatte Kant die Entwicklungen in der Medizin Zeit seines Lebens mit Interesse verfolgt. Er stand mit führenden Ärzten seiner Zeit, wie Markus Herz, Johann Benjamin Erhard und dem genannten Christoph Wilhelm Hufeland in brieflichem und freundschaftlichem Kontakt, und insbesondere in seinen letzten Lebensjahren nahm er an den medizinischen Debatten seiner Zeit regen Anteil. Wendet man sich den diesbezüglichen Quellen und ihren Kontexten zu, dann eröffnet sich für das Thema Kant und die Medizin nun doch ein weites Feld. Es ist ein Feld, das die Bereiche der Theorie und der Geschichte der Medizin, der Wissenschaftstheorie, der Naturphilosophie und schließlich auch noch die medizinische Ethik unserer Gegenwart umfasst. Mit diesem Feld möchte ich Sie heute abend auf einigen Streifzügen bekannt machen. Der erste Streifzug steht unter dem Motto „Hypochondrie und die Krankheiten des Kopfes“.

 I. Hypochondrie und die Krankheiten des Kopfes

Zu einer Dame, die ihn nach seinem Befinden fragte, äusserte Kant einmal, dass er eigentlich nie gesund und nie krank sei. Jenes, weil er einen Schmerz, ein Drücken unter der Brust, auf dem Magenmunde, wie er sagte, fühle, das ihn nie, nie verliesse; dieses, weil er niemals auch nur einen Tag krank gelegen oder der ärztlichen Hilfe (ausser ein paar Pillen, die er sich gegen Obstruktionen von seinem Schulfreunde, dem Doktor Trummer, hatte verschreiben lassen) bedürftig gewesen wäre“ (Borowski, 52). Die Pillen bestanden übrigens, wie Wasianski berichtet, „aus gleichen Teilen venezianischer Seife, verdickter Ochsengalle, Rhabarber und der Ruffinschen Pillenmasse“ (W, 291). Mag man in Kants Äußerung den Ton einer leisen courtoisen Selbstironie hören, in dem er sein Leben in einem andauernden Schwebezustand zwischen Gesundheit und Krankheit befindlich schildert, so dürfte eine andere Interpretation wohl treffender sein. Sie findet sich in einer zeitgenössischen Schrift über die Hypochondrie. Dort heisst es gleich zu Beginn:

„§ 1. Die Hypochondrie ist eine langwierige Krankheit, bei welcher man sich    selten recht krank und niemals recht gesund befindet.“ (Böhme 396)

In der Tat sah Kant sich selbst als einen Hypochonder an, genauer als einen Menschen, der eine natürliche Anlage zur Hypochondrie habe, deren physische Ursachen er aber zu beschreiben und deren psychische Wirkungen er mit Hilfe der Vernunft zu meistern gewusst habe. „Ich habe“, so schreibt Kant an Hufeland, „wegen meiner flachen und engen Brust, die für die Bewegung des Herzens und der Lunge wenig Spielraum lässt, eine natürliche Anlage zur Hypochondrie, welche in früheren Jahren bis an den Überdruss des Lebens grenzte. Aber die Überlegung, dass die Ursache dieser Herzbeklemmung vielleicht bloss mechanisch und nicht zu heben sei, brachte es bald dahin, dass ich mich an sie gar nicht kehrte und während dessen, dass ich mich in der Brust beklommen fühlte, im Kopf doch Ruhe und Heiterkeit herrschte […]. Die Beklemmung ist mir geblieben; denn ihre Ursache liegt in meinem körperlichen Bau. Aber über ihren Einfluss auf meine Gedanken und Handlungen bin ich Meister geworden durch Abkehrung der Aufmerksamkeit von diesem Gefühle, als ob es mich gar nicht anginge.“ (Streit der Fakultäten, 103/4)

Kants Schilderung der Ursachen der Hypochondrie stimmt mit der traditionellen Auffassung überein. Demnach geht sie vom Hypochondrom, der Gegend unterhalb des knorpeligen Endes des Brustbeins, aus und betrifft den Oberbauch – Magen, Darm, Milz und Leber. Als primäre Ursache werden Verdauungsprobleme, insbesondere Verstopfungen angesehen, die durch falsche Lebensführung verursacht werden und zur Hypochondrie führen können, die sich in Zuständen der Angst, der Traurigkeit, Einsamkeitsgefühlen, Gefühlen der Schwäche, der Niedergeschlagenheit, Suizidgedanken und in Unruhe äußert. Nach humoralpathologischer Lehre kommt hierbei der Schwarzen Galle – der melan chole im Griechischen – als Kardinalsaft und der Milz als korrespondierendem Organ eine besondere Bedeutung zu. Und auch die von Kant empfohlene und offenbar mit Erfolg praktizierte therapeutische Maxime der Ablenkung ist in den zeitgenössischen medizinischen Handbüchern gut belegt. Kants beredte Schilderung der Hypochondrie erlaubt es nun aber auch, sich von der biographischen Person Kants ab- und dem zuzuwenden, was man die Psychopathologie eines Zeitalters nennen kann, des Zeitalters der Aufklärung, das das Zeitalter Kants war.

In der Geschichte der Hypochondrie kommt dem 18. Jahrhundert eine besondere Bedeutung zu. In ihm wurde die Hypochondrie sozusagen zur Modekrankheit. Zeitgenössischen Quellen zufolge waren es bis zu zwei Drittel Hypochonder, die die ärztlichen Praxen aufsuchten. Dem entspricht eine wahre Flut von Literatur zum Phänomen der Hypochondrie. Sie reicht von Lustspielen wie Johann Theodor Quistorps „Der Hypochondrist“ über eine erfolgreiche Holsteinische Wochenschrift unter dem Titel „Der Hypochondrist“, einer über sechs Jahre hin geführten Kolumne im angesehenen London Magazin „The Hypochondriack“ bis zu einer reichhaltigen wissenschaftlichen Literatur zum Thema. Wie ist das zu verstehen?

Die Hypochondrie galt im 18. Jahrhundert allgemein als Zivilisationskrankheit. Ihren Hauptsitz hatte sie in England, dem industriell am weitesten entwickelten Land der Zeit. So erklärt sich auch der für die Hypochondrie gebräuchliche Name der Englischen Krankheit. Der Ausdruck Spleen, der zunächst nur die Gegend der erwähnten Hypochondrien unterhalb des Endes des Brustbeins bezeichnete, wurde bald zum Ausdruck für nervöse Störungen und Verrücktheiten, die als fixe Idee anzusehen sind. Während die Hypochondrie zunächst und vor allem als ‚Gelehrtenkrankheit’ galt, da die überwiegend sitzende Lebensweise für die Oberbauchorgane als schädlich angesehen wurde, weitete sie sich recht bald rapide aus und galt schliesslich als eine Krankheit, für deren Ursache das moderne Leben insgesamt verantwortlich gemacht wurde.

Hierfür lassen sich mehrere Umstände und Faktoren angeben. Die mit der beginnenden Industrialisierung einhergehende Arbeitsteilung, die Verlängerung der Arbeitszeit und die Einförmigkeit der Verrichtungen führte zu dauerhaften und einseitigen Belastungen des Körpers. Dem sind nur scheinbar der sich ausbreitende Luxus und das damit einhergehende Phänomen der Langeweile entgegengesetzt. Sie begünstigten die verstärkte Aufmerksamkeit auf das eigene körperliche und seelische Wohlbefinden. Auf der anderen Seite sind die Beeinträchtigungen und Störungen des biologischen Lebensrhythmusses durch ein unentwegtes Tätigsein zu nennen, sowie der sich ausweitende Genuss von Luxusartikeln wie Kaffee, Tee und Tabak, die als Stimulanzen dienten, um das Arbeiten gegen den natürlichen Rhythmus von Schlafen und Wachen durchzuhalten. Schließlich ist es das insbesondere im 18. Jahrhundert sich wandelnde städtische Leben, in dem sich die genannten Faktoren wie in einem Brennspiegel bündeln. In diesem Sinne darf man sagen, und zwar in Übereinstimmung mit zahlreichen Autoren der Zeit, dass das Syndrom Hypochondrie ein Produkt der beginnenden Moderne ist, die im 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Aufklärung, ihren bis heute andauernden Lauf nahm.

Einer dieser Autoren war, von der gelehrten Forschung bisher kaum beachtet, der junge Immanuel Kant. Im Jahre 1764 hatte Kant, er stand im 40. Lebensjahr, eine Schrift mit dem Titel Versuch über die Krankheiten des Kopfes in den Druck gegeben (AA II, 259-271).[2] Hier verbinden sich auf eine in Kants Schriften seltene, höchst subtile Weise ‚Scherz, Ironie, Satire und tiefere Bedeutung’, um Christian Dietrich Grabbe zu zitieren, und zwar in einer offensichtlich kulturkritischen Absicht. Der begeisterte Rousseau-Leser Kant hält seinem Zeitalter ein mit spitzer Feder gestochenes Tableau der geistigen und psychischen Defekte vor Augen, die, wie Kant sich ausdrückt, im Gefolge des „künstlichen Zwangs und der Üppigkeit der bürgerlichen Verfassung“, wenn nicht entstehen, so doch begünstigt, unterhalten und vermehrt werden. Die entstehende, auf das Prinzip des Utilitarismus eingeschworene bürgerliche Gesellschaft, in der die Parvenues zu Mitgliedern einer neuen Meritokratie werden und in der das Leben zum Überleben derer wird, die sich am klügsten Vorteil und Anerkennung zu verschaffen wissen, diese bürgerliche Gesellschaft, so schreibt Kant, „heckt Witzlinge und Vernünftler, gelegentlich aber auch Narren und Betrüger aus und gebiert den weisen oder sittsamen Schein, bei dem man sowohl des Verstandes als der Rechtschaffenheit entbehren kann, wenn nur der schöne Schleier dichte genug gewebt ist, den die Anständigkeit über die geheime Gebrechen des Kopfes oder des Herzens ausbreitet.“ (259) Mit unverhohlener Ironie identifiziert sich der junge Kant sodann mit jenen vorgeblich weisen und wohlgesitteten Bürgern, unter denen er lebe, indem er von ihnen ein Zutrauen in die eigene „Feinigkeit“ erbittet, auch dann, wenn er in der Lage wäre, die Krankheiten des Kopfes und des Herzens mit den „bewährtesten Heilmitteln“ zu beheben, „diesen altväterischen Plunder, dem öffentlichen Gewerbe [nicht] in den Weg zu legen, zumal die Ärzte des Verstandes, die sich Logiker nennen, die wichtige Entdeckung gemacht haben: dass der menschliche Kopf eigentlich eine Trommel sei, die nur darum klingt, weil sie leer ist.“ (260) Dass dies zugleich ein Hieb gegen den Ärztestand und die ärztliche Praxis seiner Zeit darstellt, den er mit launiger Ironie gegen sein eigenes Vorhaben richtet, das zeigt die Ankündigung, mit seiner Schrift nur die Methode der Ärzte nachzuahmen, welche glauben, ihren Patienten sehr viel genutzt zu haben, wenn sie einer Krankheit Namen geben. In dieser Absicht entwirft Kant eine „kleine Onomastik der Gebrechen des Kopfes“, die „von der Lähmung desselben an in der Blödsinnigkeit bis zu dessen Verzuckungen in der Tollheit“ (260) reicht, deren „mildere Grade“ sich indessen zwischen Dummköpfigkeit und Narrheit bewegen, die in der bürgerlichen Gesellschaft zwar gangbarer seien, am Ende aber zu den ersten Übeln führen. Und hier findet auch die Hypochondrie ihren Platz, die Kant ebenso treffend wie humorvoll als eine ständige grillenhafte Furcht krank zu sein beschreibt, mit der aber auch andere Einbildungen und fixe Ideen verbunden sind.

Mit funkelndem Witz und begrifflicher Virtuosität entwirft Kant ein satirisches Gegenstück zu den medizinischen Handbüchern seiner Zeit, die sich in immer neuen und differenzierteren Nosologien, d.h. Lehren von der Erscheinungsform einer Krankheit und diesbezüglichen Systematiken übertrafen, ohne, wie Kant es – ironisch  mit Bezug auf sich selbst – formuliert hatte, die beschriebenen Krankheiten „aus dem Grunde heben“ zu können. Das, so lautet die eigentliche Botschaft des jungen Kant, gilt in Wahrheit für die ärztliche Kunst selbst. Eben der Kant, der mit den bedeutendsten Kaufmannsfamilien in Königsberg und mit dem Adel auf dem Gut der Kayserlingks als gern und oft gesehener Gast verkehrte, dessen gesellschaftliche Gewandtheit man schätzte, der sich stets mit Geschmack und à la mode kleidete, dieser ‚elegante Magister Kant’, wie man ihn nannte, legte dem Publikum seiner Zeit eine gelehrte Satire vor, in der die bürgerliche Gesellschaft als Tollhaus erscheint, das auf dem Fundament der Aufklärung und des zivilisatorischen Fortschritts errichtet ist, dessen Bewohner Narren sind, die sich ihre Übel selbst bereitet haben und für die eine Aussicht auf Heilung kaum zu hoffen steht. Wie es damit heute steht, überlasse ich Ihrem Urteil.

II. Das Problem der Pockenimpfung

Vom frühen Kant werfe ich einen Streifblick auf den späten Kant. Dass Kant, auch und verstärkt in seinen letzten Lebensjahren, den Problemen der zeitgenössischen medizinischen Praxis gegenüber empfänglich und sensibel war, belegen seine Überlegungen zur Pockenimpfung. Im Rahmen der Erörterung der moralischen Zulässigkeit des Selbstmords wirft Kant in seiner späten Tugendlehre die kasuistische Frage auf, ob die Pockenimpfung moralisch erlaubt sei. Das Problem ergibt sich aus der Kollision der zu Kants Zeit noch verbreiteten tödlichen Folgen der Pockenimpfung mit der Pflicht der Selbsterhaltung, für die Kant zuvor aus Prinzipien seiner ethischen Theorie argumentiert.

„Wer sich die Pocken einimpfen zu lassen beschließt, wagt sein Leben aufs Ungewisse, ob er es zwar tut, um sein Leben zu erhalten, und ist insofern in einem weit bedenklicheren Fall des Pflichtgesetzes als der Seefahrer, welcher doch wenigstens den Sturm nicht macht, dem er sich anvertraut, statt dessen jener die Krankheit, die ihn in Todesgefahr bringt, sich selbst zuzieht. Ist also die Pockeninokulation erlaubt?“ (AA VI, 424)

Kant hat diese Frage hier nicht beantwortet, sondern dem Leser zur eigenen Urteilsfindung vorgelegt. Biographischen Quellen aus Kants letzten Lebensjahren ist zu entnehmen, dass Kant gegen die damals aktuelle Schutzimpfung mit Kuhpocken (die sog. Vakzinierung) starke Bedenken äußerte, die vor allem auf beträchtlichen Unklarheiten über den Erfolg der Impfung beruhten.

Einige Reflexionen aus dem Nachlass geben einen Einblick in Kants weitere Überlegungen zur Pockenimpfung. Sie sind durch besorgte Anfragen veranlasst, die Kant von dem jungen  Leopold Fabian Emil Reichsgraf zu Dohna erhalten hatte. Diesem war, wie er schreibt, Kants „Tugendlehre“ zum „Handbuch geworden“. Das Kantische System habe er „durch ein Privatissimum beim Professor Beck damals in Halle“ (AA XII, 284) kennen gelernt. Seine junge schwangere Frau habe den festen Vorsatz gefasst, sich der Pockenimpfung zu unterziehen, über dessen moralische Zulässigkeit der Graf nun von Kant Aufschluß suchte. Auch der Hallische Medizinprofessor Johann Christian Wilhelm Juncker (1761-1800), der sich die Ausrottung der Pocken zur Lebensaufgabe gemacht hatte, wandte sich an Kant mit der Bitte um Aufklärung in dieser Sache. Er hatte seine Anfrage übrigens auch an mehrere Hallenser Philosophieprofessoren gerichtet. Der alte Kant beabsichtigte eine öffentliche Antwort an prominenter Stelle, wie der folgenden Notiz zu entnehmen ist, in der er erinnernd auch auf die „casuistische Aufgabe“ der Tugendlehre Bezug nimmt:

„In die Jahrbücher der preußischen Monarchie einen Brief an den Graf Dohna, die Pockenimpfung und der Zuläßigkeit betreffend [mit Vermerk: Erörterung einer casuistischen Aufgabe, die Zuläßigkeit oder Unzuläßigkeit der Pockeneinimpfung betreffend (vide Rechtslehre)], mit Rücksicht auf Prof. Juncker in Halle, den Feuerlärm darüber zu mäßigen.“ (AA 15,2; 971)

Eine gedruckte Antwort liegt nicht vor. Kant wiederholt in seinen privaten Notizen das Argument der Unsicherheit der Wirkung der Impfung, mit der auch eine Fremdgefährdung verbunden sei und erweitert die Überlegungen um das Problem der Gefährdung von Kindern, „die selbst kein Urteil haben“, also einwilligungsunfähig sind. An mehreren Stellen brechen die Manuskriptfragmente ohne Entscheidung ab.

In einer Reflexion allerdings erprobt Kant eine positive Antwort. Die Pockenimpfung wird mit Blick auf die zeitgenössische medizinische Praxis zu den „heroischen Mitteln“ gerechnet, Mittel, wie Kant ausführt, „welche auf Leben und Tod, oder was eben so viel ist, auf die Gefahr des Patienten lebenslang krank zu werden dabey gewagt würden“ (AA XV, 2; 971f.).[3] Angesichts dieser Situation, und das heisst, bei nicht hinreichend gesichertem Heilerfolg mit möglicherweise tödlichem Ausgang darf, so führt Kant nun aus, nicht ein einzelner Mensch tätig werden, sondern nur die Regierung eines Staates kann bzw. darf „die Pockenimpfung durchgängig anbefehle[n], da sie dann für jeden Einzelnen unvermeidlich: mithin erlaubt ist“. Dem ist zu entnehmen, dass Kant die Pockenimpfung mit Blick auf den noch unzureichenden Stand der Wissenschaft und der medizinischen Praxis seiner Zeit für moralisch unzulässig hält und das moralische Problem auf der Ebene des Politischen durch den Machtspruch des Souveräns, des einzigen, der zur Gesetzgebung befugt ist, zu lösen sucht (s. Brandt zu „Kant, was bleibt?“). Ob dieser Ausweg zu überzeugen vermag, soll hier dahingestellt bleiben. Ob damit Kants letztes Wort in dieser Sache gesprochen ist, lässt sich nicht ausmachen.

Von größerer Bedeutung in Sachen Kant und die Medizin ist etwas anderes. Am Ende des Jahrhunderts, noch zu Lebzeiten Kants, ergriff der kritische Geist Kants die Medizin und entfachte eine vehemente und wirkungsmächtige Diskussion über ihre theoretischen Grundlagen. Davon soll in dem folgenden Streifzug unter dem Stichwort „Kant und die Kritik der Medizin“ die Rede sein.

III. Kant und die Kritik der Medizin

Gleichsam als Proszenium mag die folgende Begebenheit dienen. Der hochberühmte Anatom, Physiologe und Physiker Samuel Thomas Sömmering (1755–1830) glaubte nach umfangreichen anatomischen Untersuchungen, den Sitz der Seele in der Flüssigkeit der Hirnventrikel ausfindig gemacht zu haben (Über das Organ der Seele, 1796).[4] In der Hoffnung, von der höchsten philosophischen Autorität seiner Zeit eine Bestätigung seiner Überzeugung zu erhalten, wandte er sich an Kant mit der Bitte um einen Kommentar. Kants Antwort war vernichtend. Über den Sitz der Seele, so liess sich Kant vernehmen, lasse sich gar nichts mit Bestimmtheit ausmachen, da das, was wir die Seele nennen – das Bewusstsein unserer psychischen Erlebnisse –, nur ein Gegenstand des inneren Sinnes ist, der zu einer Ortsbestimmung nicht in der Lage ist. Soll dies möglich sein, so müsste die Seele sich selbst „zum Gegenstand ihrer eigenen äusseren Anschauung machen und sich ausser sich selbst versetzen […], welches sich widerspricht.“ (Sömmering 1796, 86 –Wiesing 6) Kants Kommentar ist nicht nur für die Geschichte der Neurobiologie von Bedeutung, sofern hier die Hirnphysiologie mit erkenntniskritischen Argumenten von metaphysischen Spekulationen über die Existenz der Seele und ihren Ort im menschlichen Körper befreit wird, er gab auch die Richtung vor, in der Kants kritische Philosophie in der am Ende des Jahrhunderts aufbrechenden Grundlagenkrise der Medizin wirksam werden sollte.

Diese Krise wurde manifest in einem polemischen, im Jahre 1795 in Christoph Martin Wielands Zeitschrift Der Neue Teutsche Merkur anonym veröffentlichten Artikel Über die Medizin. Arkesílas an Ékdemos, der aus der Feder des eingangs erwähnten Nürnberger Arztes, Kant-Schülers, Hörer Reinholds in Jena, Kritiker Fichtes, Freundes Friedrich von Hardenbergs und Jakobiners Johann Benjamin Erhard stammte. Mit dieser Schrift, der Erhard mit Absicht den Namen des antiken dialektischen Skeptikers und Begründers der sog. zweiten platonischen Akademie, Arkesìlaos, voranstellte, wollte Erhard nach eigener Aussage „die deutschen Ärzte aus ihrem Traume über die Vortrefflichkeit ihrer Kunst […] wecken.“ (Versuch, 8; vgl. Henrich, 1351ff, hier: 1354 und Angaben)

Das tat er gründlich und mit Erfolg. Eine der zentralen skeptischen Thesen Erhards war es, dass die Medizin seiner Zeit den Titel einer Wissenschaft nicht führen könne und dürfe, weil ihre Erkenntnisse nicht die erforderliche Sicherheit und Gewissheit aufweisen, und dies deswegen, weil sie noch gar nicht über einen sicheren Begriff von ihrem Gegenstand, dem Menschen und seinen Krankheiten, verfüge. Die im Umlauf befindlichen Krankheitsbegriffe beziehen sich nämlich nur auf das, was man mit den Sinnen wahrnehmen kann, was man sehen, fühlen, ertasten, riechen und schmecken kann, aber nicht auf die inneren Vorgänge im Körper – eine These, die sich leicht durch beliebige zeitgenössische Krankheitsgeschichten bestätigen ließe, die sich in der Regel auf die unmittelbar wahrnehmbaren primären Vitalreaktionen beziehen. Daher hat der Arzt kein Kriterium an der Hand, das es ihm erlaubt, zwischen einem Symptom und der eigentlichen Krankheit zu unterscheiden. So lässt schon das Indicans die zu fordernde Sicherheit und Gewissheit vermissen.

Aber auch die Methoden, mit denen der Arzt von seinem Befund aus zu Handlungsanweisungen kommen soll – der Indicatio – sind, so Erhard, unsicher und unbrauchbar. Und hier spricht der Philosoph: Was in einem konkreten Fall zu tun ist, das, so Erhard, kann sich nur aus einem praktischen Vernunftschluss ergeben: Der Obersatz muss das Vorliegen einer bestimmten Krankheit sicher konstatieren. Der Untersatz muss eine sichere Aussage darüber sein, was im Körper vorgehen muss, damit die so bestimmte Krankheit behoben werden kann. Die Conclusio sagt dann, welches Vorgehen angezeigt ist, um die Krankheit zu beheben, und zwar aufgrund einer sicheren Kenntnis der Wirkungsweise bestimmter Heilmittel mit Bezug auf bestimmte Vorgänge im Körper. Weil aber der Obersatz und auch der Untersatz ungewiss sind, das heisst, weil der Zusammenhang zwischen körperlichen Funktionen und bestimmten Erscheinungen physiologisch und pathologisch nicht zuverlässig erkannt ist, fehlt es der Medizin sowohl an wissenschaftlichen Erkenntnissen  hinsichtlich des Vorliegens einer Krankheit als auch an einer wissenschaftlich begründeten Theorie der Heileingriffe. (vgl. Wiesing 7) Und deswegen gibt es auch keine Sicherheit mit Bezug auf die Wirkungsweise von Heilmitteln, dem Indicatum. Das Angebot von Heilmitteln gleiche, so klagt Erhard, einer „Rümpelkammer“, eben weil es keine gesicherten Erkenntnisse darüber gebe, warum ein bestimmtes Mittel gegen eine bestimmte Krankheit wirkt, warum etwa ein Brechmittel bei einer bestimmten Krankheit eine heilende Wirkung hat, bei einer anderen nicht. Erhards spöttisches Resumee. „Es bleibt der Medizin also nichts vor der Philosophie, als dass sie [die Medizin] öfter reich macht.“ (Ark., 338)

Man kann Erhards Philippica indessen nur dann angemessen verstehen, wenn man sie vor dem Hintergrund der Situation der Medizin am Ende des 18. Jahrhunderts wahrnimmt. In der Medizin, so lässt sich sagen, klafften am Ende des 18. Jahrhunderts Theorie und Praxis weit auseinander. Während die Physiologie und Anatomie auf dem Gebiete der Atmungs-, Stoffwechsel- und Verdauungsphysiologie, sowie im Bereich der Hämodynamik (der Lehre von den physikalischen Grundlagen der Blutbewegung), der Osteogenese (der Knochenbildung), der Embryologie und anderen Forschungszweigen, dem neuzeitlichen Wissenschaftsverständnis folgend, mit der Methode der Hypothesenbildung und der experimentellen Überprüfung sei langem bedeutende Ergebnisse vorweisen und auch die Erkenntnis der Physik und Chemie in sich aufnehmen konnte, beschränkte sich die Therapie weitgehend auf die von der antiken Humoralpathologie her tradierten, überwiegend ausleerenden Heilverfahren. Man ließ zur Ader, schröpfte, klistierte, verordnete Abführ- und Brechmittel – was der kranke Körper nur zuließ, um ihn von den angeblich schädlichen Säften zu befreien. So standen im Ausgang des 18. Jahrhunderts die neuzeitliche, mechanistisch verfasste Physiologie und Anatomie auf der einen Seite, das hippokratisch-aristotelisch-galenische Grundkonzept der Krankheitslehre auf der anderen Seite in einer unversöhnlichen Spannung einander gegenüber.

Erhards Artikel, der die Krisensymptome der zeitgenössischen Medizin gleichsam bündelte und zuspitzte, schlug ein wie der Blitz. Er entfachte eine vehemente kontroverse Diskussion über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen, die Methoden und den Status der Medizin, die fast ein Jahrzehnt andauerte. Und hier tritt die Philosophie Kants auf den Plan. Zahlreiche Ärzte sahen in der Kantischen Philosophie einen Ausweg aus der Krise, zumindest die Möglichkeit, die anstehenden Probleme auf ein gesichertes erkenntnis- und wissenschaftstheoretisches Fundament zu stellen. Zu nennen sind neben Johann Benjamin Erhard der frühe Johann Christian Reil (1759-1813), Immanuel Meyer, Johann Stoll (1796-1848), Johannes Köllner, Karl Friedrich Burdach und Andreas Röschlaub (1768-1835). Daneben waren es auch Philosophen, und zwar zunächst nicht-idealistische Nachfolger Kants, wie Carl Christian Erhard Schmid (1761-1812) und Jakob Friedrich Fries (1773-1843), die die Medizin und ihre Disziplinen einschließlich der Therapie mit wissenschaftstheoretischen Argumenten Kantischer Provenienz auf neue Fundamente zu stellen suchten.

Versucht man, die thematischen Schwerpunkte, die für diese Debatten von Bedeutung waren, zusammenzufassen und zu ordnen, dann lässt sich das Folgende sagen: Die thematischen Schwerpunkte sind vor allem Kants Erkenntnistheorie und der kritische Erfahrungsbegriff. Auf ihrer Grundlage konnte eine theoretisch begründete Kritik des weit verbreiteten, theoriefeindlichen und insofern wissenschaftlich ungesicherten, gleichsam naiven Erfahrungsglaubens unter den Ärzten vorgebracht werden, auf der anderen Seite konnte man den aus der Antike tradierten, in der Therapie immer noch wirksamen spekulativen naturphilosophischen Annahmen entgegentreten. Ein zweiter Schwerpunkt bildete Kants Systematik der Wissenschaften. Sie erlaubte eine Ordnung der Grundlagenwissenschaften der Medizin, insbesondere der Physiologie, im System der Naturwissenschaften und eine klare Unterscheidung der Medizin in einer theoretische und einer praktische Wissenschaft, die Kant als Kunst bestimmt hatte, und deren Vermittlung die praktische Urteilskraft zu leisten hat. Schließlich ist Kants Auffassung über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Naturforschung zu nennen. Sie wurde zur Grundlage der Theorie organischer Prozesse und einer daraus abgeleiteten Theorie der Heilkunde.

Kants grundstürzende epochale Leistung, um daran hier nur mit wenigen Worten zu erinnern, war es ja, die Möglichkeit von Erkenntnis auf die Erfahrung von Gegenständen und Ereignissen zu beschränken, die uns durch die Sinne in Raum und Zeit gegeben sind. Damit war jeder Form von Metaphysik der Boden entzogen. Zum anderen hatte Kant dargetan, dass alle wissenschaftliche Erfahrungserkenntnis, deren Modell für ihn die Newtonische Physik war, auf Prinzipien beruht, die ihrerseits nicht aus der Erfahrung stammen und durch sie beglaubigt werden, sondern a priori gültig sind. Eines der prominentesten Prinzipien ist das Gesetz der Kausalität: Alle Veränderungen geschehen nach dem Verhältnis von Ursache und Wirkung. So ist Kants Konzept der Erfahrungserkenntnis doch eine – allerdings gänzlich neu gefasste – Metaphysik der Erfahrung zu nennen. Für die medizinische Theorie folgt daraus zum einen, dass alle Annahmen über im Körper wirkende Geistwesen oder Seelensubstanzen als grundlos und unhaltbar zurückgewiesen werden müssen; zum anderen, dass die Medizin, insbesondere die Physiologie, zu ihren Erkenntnissen auf dem Wege der Erfahrung, d. h. der planvollen Beobachtung und der Induktion gelangen und daher selber nicht eine erfahrungsfreie Wissenschaft sein bzw. werden kann.

Kants Philosophie bot aber noch einen anderen, nicht weniger attraktiv erscheinenden Vorteil. Er liess sich, wie soeben erwähnt, aus Kants Theorie des organischen Lebens gewinnen, die Kant in seiner letzten kritischen Hauptschrift, der „Kritik der Urteilskraft“ entwickelt hatte. Kants Überzeugung war es, dass das in der belebten Natur zu beobachtende Phänomen einer in sich zweckmässigen, auf die Erhaltung und Reproduktion des Lebens ausgerichteten Selbstorganisation nach kausal-mechanischen Gesetzen nicht zureichend erklärt werden könne. Dies ist deswegen nicht möglich, weil bei einem Organismus Teil und Ganzes in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis stehen, indem die Teil das Ganze hervorbringen, das seinerseits die Teile erhält, ein Verhältnis, das nach dem einsinnigen Ursache-Wirkungs-Verhältnis nicht angemessen beschrieben werden kann. Da wir in unserem Begriffsrepertoire über keine anderen deskriptiven Begriffe verfügen, die dieses Phänomen zu erklären erlauben, bleibt als einziger Ausweg zwischen der erkenntnistheoretischen Kapitulation und der Zuflucht zur Metaphysik einer substantiellen Lebenskraft die Etablierung eines hypothetischen bzw. heuristischen Theoriemodells, das mit Blick auf die Struktur eines Organismus in Analogie zu unserem eigenen autonomen, auf Zwecke ausgerichteten Handeln in einer Welt, in der wir uns selbst realisieren, zu entwickeln ist. Es ist das, was Kant eine bloss regulative Idee nennt. Sie ist ein operationaler Modellbegriff, eine theoretische Projektion sozusagen, unter deren Leitung zwar keine objektive, naturwissenschaftlich relevante Erkenntnis, aber doch eine systematische Beschreibung der für Organismen typischen Prozesse und Funktionen möglich ist. Das ist dadurch möglich, dass wir diesen Organismen die Vorstellung eines von ihnen selber ausgehenden und von ihnen realisierten zweckvollen Handelns, durch das sie sich selbst bilden und erhalten, gleichsam leihen. Auch diese Seite der Kantischen Philosophie wurde von den führenden Kantianern unter den Ärzten mit Nachdruck in die Diskussion um die Grundlagen der Medizin eingebracht. So gab es also begründeten Anlass zu der Hoffnung, mit Kant die Medizin aus ihrer Krise herausführen, sie als Wissenschaft und Kunst zugleich legitimieren und damit von Grund auf reformieren zu können. Aus Zeitgründen beschränke ich mich im folgenden auf einen fragmentarischen Blick auf Johann Benjamin Erhards weiteren, nunmehr konstruktiven Beitrag in dieser Debatte.

 IV. Zu Erhards Versuch eines Organons der Heilkunde

Erhard, den man zu recht als den Kantischen enragé unter den philosophierenden Ärzten seiner Zeit bezeichnen könnte, veröffentlichte im Anschluß an seinen Arkesilas-Artikel einen dreiteiligen Versuch eines Organons der Heilkunde, der, von einer geradezu überwältigenden Aufbruchstimmung getragen, sich aufmacht, der Medizin nunmehr den Weg zu einer sicheren Wissenschaft zu ebnen. Da die Medizin auch für Erhard ihre Erkenntnisse allein aus der Erfahrung gewinnen kann, wird die Frage, „Gibt es sichere Erfahrungen zum Dienste der Heilkunst?“ (M1, 26) zum zentralen Thema seiner Untersuchung. Erhard lässt keinen Zweifel daran, dass diese Frage nur auf dem Wege der Anwendung der empirisch-induktiven Methode beantwortet werden kann. Hierzu entwickelt Erhard die folgende Überlegung.

Während sich Beobachtung nur auf die subjektive Wahrnehmung der Aufeinanderfolge von bestimmten Erscheinungen bezieht, besteht Erfahrung bzw. eine objektive Erkenntnis, die aus Erfahrung gewonnen ist, in der „Gewissheit, dass zwischen bestimmten Erscheinungen ein Kausalverhältnis ist“. Dies kann durch geeignete Experimente gesichert werden. Mit Blick auf den derzeitigen Stand der Medizin, insbesondere der Krankheitslehre, lässt sich dieses Verfahren jedoch gar nicht mit Erfolg anwenden. Darin sieht Erhard den eigentlichen Skandal der Medizin seiner Zeit. Wird ein Kranker durch ein Heilmittel gesund, dann hat man zwar die Beobachtung gemacht, „dass er dieses Mittel genommen und genesen sei“, aber man hat, so Erhard, dadurch noch gar keine objektive Erfahrung, dass dieses Mittel die Krankheit heilt. Um dies behaupten zu können, muss man 1. wissen, welche Funktionen im Körper bei einer Krankheit leiden bzw. gestört sind, und man muss 2. wissen, auf welche Weise „ohne anderen Einfluß durch den Genuß [eben] dieses Mittels“ diese Funktionen wieder in ihr natürliches Verhältnis gebracht werden können. Solange man aber keinen funktionalen Krankheitsbegriff hat, das heißt, einen Krankheitsbegriff, der auf die Störung von Funktionen des Körpers bezogen ist, sondern in umfangreichen Nosologien nur zahllose Namen für Krankheiten hat, die mehr oder weniger willkürlich nach Symptomen, Ursachen oder dem betroffenen Organ geordnet sind – so gehören etwa „kränklicher Monatsfluß“, „Nasenbluten“ und „Hämorrhoiden“ in dieselbe nosologische Kategorie, weil „Blutung“ ihr gemeinsames Symptom ist –, und solange man auch keine genauen und gesicherten Erkenntnisse über die Natur des Heilmittels und seine Wirkungsweise im Körper hat, solange sind keine Rückschlüsse darauf möglich, warum ein bestimmtes Heilmittel in einem bestimmten Krankheitsfall angezeigt ist oder wie die Heilung konkret vonstatten gehen soll – solange ist, mit einem Wort, keine objektive Erkenntnis in der Heilkunst möglich, und das heißt, dass die Heilkunst, als Wissenschaft betrachtet, unmöglich ist. Und damit ergibt sich für Erhard die Notwendigkeit, die folgenden Fragen zu klären: „Was ist das Objekt der Heilkunst? Was ist ihr Zweck? Wo sind ihre Mittel?“ (M1, 65)

Unter explizitem Bezug auf Kants Theorie organisierter Wesen und Kants Begriffs der lebendigen Kräfte schlägt Erhard nun eine Definition des Begriffs eines organisierten Körpers als Objekt der Heilkunde vor, die er ausdrücklich nur als Prinzip der reflektierenden Urteilskraft, und nicht als Prinzip einer theoretischen Erkenntnis verstanden wissen will: „Unter einem organisierten Körper ist dasjenige zu verstehen, was Bewegung hat, und wessen Bewegung, so wie sie wahrgenommen wird, als zu eigenem Zwecke gehörig beurteilt werden muß.“ (M1, 68) Unter Bewegung sind offenbar alle inneren und äußeren Veränderungen und Prozesse eines organisierten Körpers gemeint, die zu seiner Erhaltung dienen, denn dies ist sein ‚eigener Zweck’.

Kant seinerseits hatte, wie erwähnt, mit Blick auf die Phänomene der Zeugung, der Ernährung und des Wachstums den organisierten Produkten der Natur die Eigenschaft zugesprochen, sich selbst zu organisieren. Die Assimilation der Stoffe, die etwa ein Baum zu seinem Wachstum leistet, ist Kant zufolge deswegen als eine Art der Selbstorganisation und Selbstbildung zu verstehen, weil in der Art der Verarbeitung, der „Scheidung und neuen Zusammensetzung des ihm von außen gegebenen rohen Stoffs“, wie Kant sich ausdrückt, „eine solche Originalität des Scheidungs- und Bildungsvermögnes dieser Art Naturwesen“ anzutreffen sei, die der Naturmechanismus außer ihm nicht liefern kann, und die nach einer chemischen Analyse der Elemente auch nicht wiederhergestellt und aus dem Stoff, „den die Natur zur Nahrung liefert“, selbst nicht abgeleitet werden könne.

Hier schließt Erhard an. Denn in Entsprechung dazu muß die Art und Weise, wie ein organisierter Körper insgesamt auf Wirkungen der Außenwelt reagiert, aus ihm selbst, „den ihm eigenen Gesetzen seiner eigenen Zweckmäßigkeit“ beurteilt werden. Diese Eigenschaft eines organischen Körpers bezeichnet Erhard als Erregbarkeit. Mit ihm sieht Erhard den „Inbegriff der Gesetze [bezeichnet], nach welchen der organische Körper von anderen gereizt wird“ (75), und die als Gesetze der Wirkungsweisen der eigenen Funktionen des organischen Körpers zu begreifen sind. Die Erregbarkeit, so präzisiert Erhard, ist kein Prinzip des Lebens, sondern sein Effekt; daher ist sie ein Prinzip der Äußerung des Lebens zu nennen Daraus folgt der entscheidende Schritt: Da die Erregbarkeit das Prinzip ist, aus dem begriffen werden kann, auf welche Weise die Wirkung der übrigen Körper auf den organischen Körper erfolgt, ist die Erregbarkeit das gesuchte Prinzip der Heilkunst. Das lässt sich genauer wie folgt verstehen.

V. Zu John Browns System der Medizin

Mit dem Prinzip der Erregbarkeit ruft Erhard einen medizintheoretischen Kontext auf, der in seiner Zeit die größte Bedeutung erhalten hatte. Gemeint ist das medizinische System des schottischen Arztes John Brown (1735 – 1788), das am Ende des 18. Jahrhunderts für ca. 15 Jahre zu dem meist diskutierten Thema in den Debatten um die Reform der Medizin wurde und auch von dem alten Kant seiner Einfachheit und Geschlossenheit wegen mit Beifall aufgenommen wurde.

Brown, den Erhard rühmend nennt, definierte das Leben eines Organismus durch seine Fähigkeit, auf Reize zu reagieren. Diese universale Eigenschaft nennt er Erregbarkeit (incitabilitas). Durch sie unterscheidet sich ein lebender Organismus von einem toten. Der gesunde Zustand eines Organismus besteht in dem ungehinderten, den Lebensfunktionen angemessenen und förderlichen Verhältnis von inneren und äußeren Reizen und seiner Erregbarkeit, deren Sitz Brown im gesamten Nerven- und Muskelsystem gegeben sah. Äußere Reize sind Wärme, Nahrung und Luft, innere Reize sind Gefühlsregungen und Prozesse des Gehirns. So ist der gesamte Organismus einem „Reizmilieu“ ausgesetzt. Krankheit resultiert aus einem Missverhältnis: Ein Übermaß an Reizen bewirkt ein Übermaß an Erregung, Sthenie genannt, ein Mangel an Reizen verursacht Asthenie. Brown ging davon aus, dass im Krankheitsfall der ganze Körper betroffen sei, da die Erregung im ganzen Körper gleich verteilt sei. Daher muß auch die Therapie den ganzen Körper berücksichtigen. Bei einem Übermaß an Reizen soll der Arzt Reize entziehen, bei asthenischen Erkrankungen, die nach Brown die Mehrzahl darstellen, soll er stärkende und reizende Mittel verschreiben. Die Therapie hat festzustellen, ob eine lokale oder eine allgemeine Krankheit vorliege, ob sie sthenisch oder asthenisch ist, und schließlich hat sie den Grad der Erregung festzustellen, der anhand gewisser Symptome bestimmt werden könne, danach hat sich die Verabreichung der Heilmittel und ihrer Menge zu richten. Auf eine genauere Analyse dessen, was Erregbarkeit ist, oder wie sie genau von den erregenden Potenzen affiziert wird, ließ Brown sich unter Verweis auf die Unbegreiflichkeit letzter Ursachen nicht ein. Stattdessen versuchte er, die Diagnostik und die Therapie zu quantifizieren, in der Hoffnung, auf diese Weise die Exaktheit des Wissens in der Medizin und die Einheit von Theorie und Praxis zu realisieren. Selbstbewußt schreibt Brown im Vorwort seiner Elementa Medicinae: „Das Publicum, erhält hier ein Werk, welches auf das Verdienst Anspruch macht, die theoretische und practische Medicin zur Bestimmheit und Genauigkeit einer Wissenschaft erhoben zu haben.“ Auch wenn dieser Anspruch nicht in allen Teilen einzulösen war, so war mit Browns Konzeption der Medizin unter dem einheitlichen, Theorie und Praxis verbindenden Konzept der Erregbarkeit eine 2000jährige Tradition der Krankheits- und Gesundheitslehre überwunden und eine neue Epoche der Medizintheorie eingeleitet.

„Wir werden uns bemühen auszuwählen“, so schreibt Melchior Adam Weickard (1742-1803), Schüler Browns und erster Übersetzer seiner Werke ins Deutsche, „was sich noch weiter aus den Entdeckungen der neuern Chemie, aus gereinigten physiologischen Erforschungen, aus Kantischer Philosophie etc. wird als zuverlässig ausheben, mit der Brownischen Lehre verbinden, und in dieser Verbindung zur Vollkommenheit eines medizinischen wissenschaftlichen Gebäudes anwenden lassen.“ (W, 71) Es ist somit das Verdienst Erhards, der Organismus-Theorie Browns als erster „aus Kantischer Philosophie“ ein philosophisches Fundament geliefert zu haben, von dem Brown sich gar nichts hatte träumen lassen.

An dieser Stelle breche ich ab. Vieles und Wichtiges wäre noch zu sagen. Zu sprechen wäre noch von Andreas Röschlaub und seiner produktiven, ebenfalls kantianischen Aufnahme und Interpretation der Theorie Browns und die übrigens mit Fichte und seiner Lehre vom Widerstreben des Ich gegen die Einwirkungen der äußeren Natur vollzogene Wende zur Neubegründung der praktischen Medizin, mit der die Medizintheorie das Gravitationsfeld der Philosophie Kants verlässt. Zu sprechen wäre noch von der weiteren Entwicklung der Medizintheorie in der sogenannten Romantischen Medizin, die vor allem durch Schelling und seine Anhänger begründet wurde, in der Kants Vorbehalt gegenüber einer objektiven Erkenntnis der Prozesse der Selbstorganisation preisgegeben und in eine neue „spekulative“ Naturphilosophie transformiert wurde, in der die Natur als Subjekt ihrer zweckmäßigen Prozesse begriffen wurde. Und zu sprechen wäre auch von der schon im 19. Jahrhundert einsetzenden Abwertung und dem Vergessen dieser Tradition in der Medizingeschichtsschreibung. Von all dem soll und kann hier nicht mehr die Rede sein. Ich möchte Sie stattdessen zu einem letzten, kürzeren Streifzug einladen, der in die Gegenwart führt. Hier nämlich hat die Philosophie Kants, die für die Medizin nach dem, was ich bisher ausgeführt habe, nur von historiographischem Interesse zu sein scheint, eine hautnahe Aktualität. Gemeint ist Kants Rolle in der medizinischen Ethik der Gegenwart.

 VI. Kant in der Medizinethik der Gegenwart

Obwohl die an Kant orientierten Begriffe der Autonomie und der Menschenwürde in den verschiedensten Bereichen der Medizin und der Medizinethik heute eine zentrale Rolle spielen, gibt es derzeit doch keine Medizinethik, die in einem strengen Sinne eine „Kantische Medizinethik“ zu nennen wäre.[5] Gleichwohl ist die Frage sinnvoll, ob Kants Ethik Prinzipien enthält, mit deren Hilfe man Probleme im Bereich der heutigen Medizinethik lösen oder zumindest zu ihrer Lösung beitragen kann. Auf die wissenschaftstheoretischen Anregungen, die sich mit Kants Idee der regulativen Verwendung von teleologischen Prinzipien mit Bezug auf lebendige Organismen für die Medizin ergeben, gehe ich nicht ein. Und nur erwähnt seien hier Kants aufgeklärt-vernünftige diätetische Empfehlungen, die für eine selbstverantwortliche Körper- und Seelenkultur plädieren, durch die der Mensch sich von innen heraus stabilisiert; sie sind geeignet, zu einer Distanz gegenüber Einrichtungen wie Beauty-Farmen, dem leichtfertigen Konsum von beruhigenden oder belebenden Medikamenten oder auch schönheitschirurgischen Manipulationen aufzurufen. Ich möchte mich im folgenden stattdessen auf die Frage nach dem moralischen Status menschlicher Embryonen konzentrieren. Meine Absicht dabei ist bescheiden. Sie geht nicht darauf aus, für eine Kantische Position in der Medizinethik der Gegenwart zu plädieren. Dazu ist die Sach- und Debattenlage viel zu komplex. Ich möchte nur den Kern oder den Umriss eines Kantischen Arguments zum moralischen Status menschlicher Embryonen vorstellen.

Auf die Frage, warum man gesunde erwachsene Menschen unter normalen Umständen nicht töten darf, geben utilitaristische Ethiker die folgende Antwort: Wir dürfen Erwachsene nicht töten, weil sie ganz bestimmte personale Eigenschaften aktual besitzen. Zu solchen personalen Eigenschaften gehören die Schmerzfähigkeit, das Bewusstsein und das Selbstbewusstsein, aber auch die Fähigkeit, frei und das heißt auch nach Gründen, die man vor sich und allen anderen in einer vergleichbaren Situation verantworten kann, zu handeln, sowie die Möglichkeit, Wünsche zu haben und sich eigene Ziele für die Zukunft zu setzen. Wer so argumentiert, der verknüpft das Tötungsverbot mit bestimmten Tatsachen des personalen Bewusstseins, die bei einem gesunden erwachsenen Menschen auf natürliche Weise gegeben sind. Zugespitzt kann man von dieser Position aus sagen, dass die menschliche Person – und damit das eigentlich schützenswerte Wesen, um das es geht – nicht schon mit der Fusion der Vorkerne in der weiblichen Eizelle, also vom ersten Tag der embryonalen Entwicklung an, existiert, sondern erst irgendwann im Laufe der fötalen Entwicklung, möglicherweise aber auch erst mit oder nach der Geburt beginnt zu existieren. Diese Position geht somit davon aus, dass es Menschen gibt, die keine Personen sind.

Diese Position führt in ethische, und vor allem medizinethische Probleme. Tatsachen des Bewusstseins wie Selbstbewusstsein, autonomes Handeln oder das Haben von Wünschen sind nicht nur wandelbar, sondern so, wie man diese Tatsachen erwerben kann, so kann man sie auch wieder verlieren. So ist ein Komatöser sicherlich nicht bei Bewusstsein, er ist sich seiner selbst nicht bewusst, er kann nicht autonom handeln und er hat auch keine Wünsche für seine Zukunft. Ähnliches gilt für den schwer dementen, vor allem alten Menschen, und natürlich auch für den menschlichen Embryo. Kein menschlicher Embryo besitzt, zumindest in seinen frühesten Entwicklungsstadien, Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Autonomie, Zukünftswünsche und Zukunftsziele. Würden wir nun die Kriterien der skizzierten utilitaristischen Position konsequent und konsistent anwenden, derzufolge Menschsein und Personsein nicht denselben Umfang haben und nur das Personsein mit einem weitreichenden Tötungsverbot verbunden ist, stünde nicht nur das Leben des frühen Embryos zur Disposition, sondern auch das des komatösen und das des schwer dementen oder unheilbar geistig behinderten Menschen.

Durch das Auseinanderfallen von Personsein und Menschsein ergibt sich eine Situation, die wohl einigen unserer fundamentalen Intuitionen widerspricht, zumindest derjenigen Intuition, die Schutzwürdigkeit von komatösen und dementen Menschen nicht einfach deswegen einzuschränken, weil sie komatös oder dement sind. Genau an dieser Stelle der Überlegung lässt sich Kants Konzept der Autonomie und der Menschenwürde ins Spiel bringen. Kants grundlegende Einsicht ist es, dass der Status, eine selbstbewusste, autonome Person zu sein, und der Status, als Mensch Würde zu haben, nicht auseinanderfallen können. Jeder Mensch ist eine Person mit Würde und zwar von Anfang an.

Kants diesbezügliche Argumentation beruht auf der Einsicht, dass die Menschenwürde kein empirisch beobachtbares Merkmal eines einzelnen Individuums sein kann. Würde ist ein Merkmal, das der gesamten Gattung Mensch zukommt, mit dem sich ein uneingeschränkter normativer Anspruch verbindet. Dieses Gattungsmerkmal ist nun nichts anderes als die menschliche Freiheit (GMS 434 ff.), das heisst, die Fähigkeit des Menschen zur Selbstbestimmung, oder, wie Kant es auch ausgedrückt hat, die Fähigkeit, „seiner selbst Meister zu sein“. Unter Freiheit ist hier eine ganz bestimmte Anlage des Menschen zu verstehen, nämlich die Fähigkeit, moralisch zu handeln. Es ist die Fähigkeit, seine langfristigen Absichten nicht ausschliesslich von seinen natürlichen Bedürfnissen und Neigungen abhängig zu machen, sondern sie vernünftigen, und das heisst, universalen, für alle anderen Menschen ebenfalls gültigen Standards zu unterstellen. Genau das ist der Gehalt des vielzitierten Kategorischen Imperativs. Diese Fähigkeit zur Moralität kann, sofern sie ein Gattungsmerkmal ist, nun aber nicht etwas sein, das im Laufe der Entwicklung eines Menschen als Menschen erst an irgendeiner Stufe seiner Entwicklung entsteht und zu seinen anderen empirischen Eigenschaften hinzukommt; sie muss vielmehr von Anfang an mit der Zeugung eines Wesens, das als Mensch gelten kann, mitgegeben sein bzw. dem Menschen als solchen zugesprochen werden, denn sie ist eine Eigenschaft, die den Begriff des Menschen wesentlich betrifft. Dieser Begriff des Menschen gilt dann auch für den menschlichen Embryo – und zwar von Anfang an. Wollte man diesen Anfang fixieren, was bekanntlich kontrovers ist, wäre wohl die Befruchtung zu nennen, mit der ein einmaliger, neuer Chromosomensatz des entstehenden Menschen ausgebildet ist, und nicht die Geburt und das Durchtrennen der Nabelschnur. Daraus folgt, dass menschliche Embryonen vom Beginn ihrer Existenz an einen personalen Status haben und schutzwürdig sind.

Es lässt sich noch eine zweite Einsicht Kants einbringen. Sie betrifft den eben genannten Kategorischen Imperativ, und zwar in der folgenden Formulierung: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel brauchest“ (GMS 429). Entscheidend ist hier der Passus, dass man eine andere Person niemals „bloss als Mittel“ brauchen darf, eben weil sie eine autonom handelnde Person ist. Natürlich brauchen wir uns selbst, und auch andere manchmal als Mittel zu etwas. Das tun wir aber in der Regel mit ihrer Einwilligung. Kants Formulierung konzentriert sich hier darauf, dass wir keine Person allein und ausschliesslich als Mittel brauchen dürfen. Dies ist aber in der verbrauchenden Embryonenforschung der Fall. Eine solche Praxis ist der kantischen Ethik zufolge moralisch verboten.

Überblickt man von hier aus die gegenwärtige medizinethische Debatte, dann ließe sich Kants Position mit den wichtigsten Argumenten dieser Debatte in eine systematisch relevante Verbindung bringen. Das erste ist das sog. Speziesargument. Vertreter des Speziesarguments sind der Auffassung, dass menschliche Lebewesen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Spezies Mensch schützwürdig sind. Mit Kant ließe sich der oft diskutierte naturalistische Fehlschluss, aus einer bloß biologischen Eigenschaft, der Zugehörigkeit zur Spezies Mensch, eine Norm, nämlich die Schutzwürdigkeit, abzuleiten, vermeiden, weil für Kant der Begriff des Menschen nicht nur biologisch bestimmt, sondern durch die moralisch relevanten Eigenschaft, autonom handeln zu können, und daher Würde zu haben, definiert ist. Das ist denn auch gemeint, wenn gesagt wird, dass der Mensch Person ist.

Mit Kants moraltheoretisch gefasstem Gattungsbegriff des Menschen lässt sich ein weiteres Argument der gegenwärtigen medizinethischen Debatte verbinden. Das ist das sog. Identitätsargument. Die begrifflich bestimmte Zugehörigkeit zur Spezies Mensch entwickelt sich nicht. Im Laufe der normalen Entwicklung eines menschlichen Embryos zum selbständig lebenden Menschen und seiner Entwicklung zu einem erwachsenen, autonomen Menschen lassen sich moralrelevante Einschnitte oder Stufen nicht ausmachen. Daher ist jeder menschliche Embryo von Anfang an eine Person, und diese Person ist mit dem Menschen begrifflich identisch, der sich aus dem Embryo entwickelt. Also ist auch das Leben des Embryos von Anfang an schutzwürdig.

Noch eine weitere Überlegung ist wichtig. Das ist das sog. Potentialitätsargument, das in der gegenwärtigen Debatte als einflussreichstes und stärkstes Argument gilt. Es besagt, dass jeder menschliche Embryo, der lebensfähig ist und sich unter normalen Umständen entwickelt, potentiell die Eigenschaften hat, durch die der Begriff des Menschen definiert ist, die ein erwachsener Mensch aktual hat. Ein menschlicher Embryo wird sich also unter normalen Bedingungen ohne moralrelevante Einschnitte zu einem menschlichen Wesen entwickeln, das die genannten Eigenschaften, ebenfalls unter normalen Bedingungen, einmal aktual haben wird. Unter der Voraussetzung des Identitätsarguments und der Kontinuitätsthese – der Mensch ist vom Embryo an über den Erwachsenenstatus bis zum Tode ein numerisch identischer Organismus, der eine Einheit bildet, in dem es keine eindeutig identifizierbaren moralrelevanten Einschnitte gibt –, folgt, dass der Embryo von Anfang an einen personalen Status und Würde hat und daher schützwürdig ist.

Die folgende Argumentation fasst die skizzierten Überlegungen zusammen. Das erste Argument ist genuin Kantisch. Das zweite Argument ist die Anwendung auf den Status eines menschlichen Embryos unter Bezug auf das moraltheoretisch interpretierte Speziesargument sowie das Potentialitäts- und Identitätsargument und die Kontinuitätsthese:

I.

Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Lebewesen.

Vernunftbegabte Lebewesen haben Autonomie.

Autonomie ist der Grund der Würde.

Vernunftbegabte Lebewesen haben Würde.

 II.

Jeder menschliche Embryo ist Mitglied der Spezies Mensch.

Jeder menschliche Embryo hat potentiell Autonomie.

Potentiell Autonomie zu haben, ist eine moralisch relevante Eigenschaft.

Potentiell moralisch relevante Eigenschaften wie Autonomie zu haben, ist ein hinreichender Grund für Würde.

In moralisch relevanter Hinsicht ist ein menschlicher Embryo, der potentiell Autonomie hat, identisch mit einem Wesen, das aktual Autonomie hat.

Ein menschlicher Embryo hat Würde.

Das wäre die argumentative Grundausstattung, mit der man mit Kant im Kontext der gegenwärtigen bioethischen Debatte für die Schutzwürdigkeit menschlicher Embryonen argumentieren kann. ‚Grundausstattung’ heisst, dass breiter Raum für Diskussionen, Differenzierungen und Modifikationen gelassen ist.

Handelt es sich um eine eindeutige und akute Notsituation, dann muss man die Güter, die da auf dem Spiele stehen, abwägen, und dann muss man sich entscheiden. Dass dies oft nicht leicht ist, muss nicht gesagt werden. Hier endet aber auch der Kompetenzbereich der Philosophie und auch der Philosophie Kants, und ein ganz anderer, abgründiger Freiheitsraum tut sich auf.

* * *

Erlauben Sie mir, mit Bezug auf das Thema der Menschenwürde zum Schluss noch einmal zum alten Kant zurückzukehren. Was es heisst, ein Leben aus dem Geiste der Achtung vor der Menschenwürde und der Humanität zu führen, das lässt eine Szene mit überwältigender Klarheit deutlich werden, die sich wenige Tage vor Kants Tod ereignet hat.

Wenige Tage vor seinem Tod erhielt Kant Besuch von seinem Arzt. Bei dessen Eintritt in Kants Arbeitszimmer erhob sich Kant mit Mühe von seinem Stuhl, reichte seinem Arzt die Hand und sprach mit kaum verständlicher Stimme, aber mit zunehmender Wärme von „Posten, viele Posten, beschwerliche Posten, viel Güte“ und von „Dankbarkeit“. Der anwesende Wasianski erklärte dem Arzt, was Kant zum Ausdruck bringen wolle: Er wolle sagen, dass es bei den vielen und beschwerlichen Posten, die der Arzt wahrzunehmen habe, viele Güte von ihm sei, dass er ihn besuche und dass er ihm dafür dankbar sei. „Ganz recht“, war Kants Antwort, der noch immer mit grösster Mühe stand. Der Arzt bat ihn, sich doch zu setzen. Kant zögerte verlegen und unruhig. Wasianski erklärte dem Arzt, dass Kant sich sogleich setzen würde, wenn er, als Fremder und Gast, Platz genommen hätte. Der Arzt schien dies in Zweifel ziehen zu wollen. Da erklärte Kant nach Sammlung aller seiner Kräfte: „Das Gefühl für Humanität hat mich noch nicht verlassen.“

 

Dieser Vortrag wurde am 21. – 23. April 2014 im Rahmen der XI Internationalen Kant-Konferenz  in Kaliningrad gehalten und im Sammelband der Konferenz veroeffentlicht:

Stolzenberg, J. Kant und die Medizin // XI Кантовские чтения: Кантовский проект просвещения сегодня = XI Kant Readings: Kant’s Enlightenment Project Today: Материалы международной конференции, 21 – 23 апреля 2014 г. – Калининград: Изд-во БФУ им. И. Канта, 2014. С. 36 – 63.


[1] Wiesing, 85.

[2] Siehe auch Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA VII, 202ff. „Von den Schwächen und Krankheiten der Seele in Ansehung ihres Erkenntnisvermögens.“

[3] In der Geschichte der Medizin spricht man für die Zeit von ca. 1780 bis ca. 1850 von einer „Heroischen Medizin“, in der aggressive und gefährliche Behandlungsmethoden wie Aderlass, Reinigung des Magen-Darm-Traktes und vieles andere, oft mit tödlichem Ausgang, verabreicht wurden.

[4] Über das Organ der Seele, Königsberg 1796 (mit einem Beitrag von Immanuel Kant). (Neu herausgegeben und kommentiert von Manfred Wenzel, Schwabe-Verlag Basel, 2000.)

 

[5] Vgl. Urban Wiesing, S. 2.