Ulrich F. Wodarzik. Dreiwertige Vernunft als Kants Testament

kant1Es ist unmöglich, daß ein Mensch ohne Religion seines Lebens froh werde.

Reflexion 8106

Der Begriff eines Noumenon ist also bloß ein Grenzbegriff, um die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken.

KrV B 311

I. Exposition und platonische Bezüge

Mit Kants Testament meine ich neben seinen postum veröffentlichen Arbeiten auch Elemente aus den Positionen seiner Nachfolger, die sich im Prinzip alle auf die Transzendentalphilosophie[1] berufen. Vor allem hat der religionsphilosophisch denkende Hegel trotz seiner Kritik an der Kritik die transzendentale Dialektik, in der Kant seine drei Hauptstücke, d. h. die Paralogismen der reinen Vernunft, die Antinomie der reinen Vernunft und das Ideal der einen Vernunft darlegte[2], immer wieder lobend hervorgehoben. Kant hatte die Absicht, wie aus der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft hervorgeht, die beiden Gebiete der theoretischen Vernunft (Naturbegriffe) und der praktischen Vernunft (Freiheitsbegriffe) durch die Urteilskraft zu überbrücken. Der Gedanke einer möglichen Vollendung seiner Systemarchitektur der Transzendentalphilosophie verfolgte ihn so lange er lebte, wie aus seinem Opus postumum hervorgeht. „Transzendentalphilosophie ist Erkenntnis des Menschen von sich selbst der Welt und Gott“ [AA, XXI, S. 81][3]. Neben diesen drei Begriffen ist die Frage nach deren Grund und Einheit zeitgemäß. Jedes philosophische System ist durch die philosophische Tradition geprägt. Die Transzendentalphilosophie ist in dominanter Weise durch platonische und neoplatonische Gedankenelemente beeinflusst. Das zeigen u. a. die dialektisch-triadischen Gedankenfiguren und die Triplizität[4] bei Hegel; sie reichen bis zu Plotin und Proklos zurück [4].

Kant versuchte sein Philosophiesystem als unvermeidliche metaphysische Aufgabe durch die Vernunft zum Abschluss zu bringen. „Transzendentalphilosophie ist das subjektive Prinzip sich selbst zu einem System konstituierender Ideen von Objekten der reinen Vernunft und ihrer Autonomie nach den Begriffen: ens summum, summa intelligentia, summum bonum — Welt, Menschenpflicht und Gott“ zu machen, schreibt der alte Kant [AA, XXI, S. 79][5]. Diese leitende systematische Gedankenfigur, also das dreifaltige Schema der Vernunftideen Welt, Mensch und Gott beschäftigten Kant noch im hohen Alter. „Gott über uns, die Welt außer mir und der menschliche Geist in mir“ [AA, XXI, S. 39]. Es geht Kant erstens um die Grenzen des Erkennens, zweitens um die Imperative des Handelns und drittens um die Postulate des Glaubens. Der Mensch ist daher eine entzweite Einheit, er steht immer im doppelten Verhältnis, erstens gegenüber den Erscheinungen der Natur und zweitens gegenüber Gott.

Der Begriff der dreiwertigen Vernunft im Titel bedeutet die Differenzierung der unbedingten Vernunft, die sich in den drei Fragen nach dem Menschen offenbart [AA, III, S. 522]. Was kann ich wissen? — Theoretische Vernunft. Was soll ich tun? — Praktische Vernunft. — Was darf ich hoffen? — Religiöse Vernunft[6]. Mögliche Antworten auf die Kantische Fragetrias stecken alle in der Macht der Vernunft und in der vollen Größe der Daseinsbewältigung des Menschen, während er sein individuelles Leben führen muss. Der Mensch ist seiner Existenz und Essenz nach das, was er auf Grund seiner Vernunft zu leisten imstande ist. Das dreieinheitliche regulative Vernunftinteresse in der Form Welt, Mensch und Gott ist isomorph zur Trias theoretische Vernunft, praktische Vernunft und religiöse Vernunft. Dreiwertige Vernunft ist ferner eine begriffliche Synthese der drei transzendentalen Ideen, die aus den drei Vernunftschlüssen folgen. Diese bilden ein Ideengefüge, das ich metaphysische Dreieinigkeit nenne. [19; 21]. Welt ist die Idee der Totalität äußerer Erfahrung, d. h. aller Vorstellungen. Mensch oder Seele ist die Idee der lebendigen Ich-Totalität innerer Erfahrung. Gott ist die Idee der einen Totalität und Grund für alles. „Gott über mir, Welt außer mir, Moral in mir“ [AA, XXI, S. 83]. Alle drei Vernunftmomente sind unabhängig voneinander und durchdringen sich zu ein und der selben einen Vernunft, „weil es doch am Ende nur eine und dieselbe Vernunft sein kann, die bloß in der Anwendung unterschieden werden muß“ [AA, IV, S. 391]. Diese eine Vernunft erlaube ich mir mit dem Einen des Plotins äquivalent zu setzen Das System der Vernunfttrias ist ein nach Vernunftarten bzw. Vernunftgebrauch vermittelndes System bestehend aus drei verschiedenen aber sich jeweils ergänzenden Vernunftvermögen. Alle drei bilden eine Vernunfteinheit oder besser Vernunftdreieinheit, wobei alle drei Vermögen als gleichwertig gedacht seien.

Die Philosophie hat die Aufgabe sich den Herausforderungen unserer modernen Zivilisation zu stellen. Im Zeitalter der Globalisierung wird ein alter Anspruch der Philosophie höchst aktuell. Nämlich, der nach einer universal gültigen, über alle unterschiedlichen Kulturen und politischen Entwürfe überragende inter- und trankskulturellen gültigen Denkungsart. Was mögen die Grundprinzipien eines interkulturellen Diskurses sein? Was ist der Zweck und Sinn des Menschen, wohin soll oder wird die Menschheit hinsteuern? Das Vernunftkonzept der Transzendentalphilosophie[7] in seinen Gliederungen ist den heutigen Problemen in Ansehung einer möglichen Weltordnung für alle Bürger, Völker und Staaten dieser Erde gewachsen. Die Kritik der allgemeinen Menschenvernunft, von der sinnlichen Erkenntnis durch die Wissenschaften bis zur gläubigen Gewissheit eines jenseitigen Daseins ist „für jedermann gültig […], sofern er nur Vernunft hat“ [AA, III, S. 531]. Der Weltweise aus Königsberg hat uns eine Weltphilosophie hinterlassen, deren Erbe wir immer noch anzutreten haben. Natürlich haben die Werke Fichtes, Hegels und viele andere bis zu Jaspers, Heidegger, Habermas und Sloterdijk die Kantischen Ideen teilweise modifiziert und weitergetrieben. Doch das Kantische System der Transzendentalphilosophie bildet in seiner Systematik wohl für alle Zeiten, ähnlich den platonischen und neuplatonischen Schriften, den Urgrund philosophischen Argumentierens und Denkens.

Fichte sagte einmal: „Der Idealismus nie Denkart seyn, sondern er ist nur Speculation“ [8, S. 455]. Genauso möchte ich hier und jetzt meine Ausführungen zur dreiwertigen Vernunft verstanden wissen. Fassen sie daher meine Versuche über Kant und seine Nachfolger im Lichte einer Dreiwertigen Vernunft zu reden, als meine Zeit in Gedanken gefasst. Weil das Motto dieser 10. Kant Konferenz in Kaliningrad Klassische Vernunft und Herausforderungen der modernen Zivilisation heißt, sei einiges Grundsätzliches zum Vernunftbegriff gesagt.

Im Platonismus wie auch im Neoplatonismus hat die Trias Sein — Ich — Idee eine vorherrschende Bedeutung [1, S. 49][8]. Isomorphe Triaden sind on — zoe — nous, d. h. Sein — Leben — Geist [14, 248E]. Diesen Triaden liegt in einem nicht weiter zu erklärenden Grund ein reiner Vernunftbegriff zu Grunde, und den betrachte ich als das Eine im Sinne Plotins[9]. Die eine Vernunft entfaltet sich in ihrem Gebrauch in drei Vernunftarten. Kant spricht auch von drei Prinzipien: „Gott, die Welt und der Begriff des sie vereinigen Subjekts welches in diese Begriffe synthetische Einheit bringt […]. Gott, die Welt, und Ich, […] [AA, XXI, S. 23]. Wir erkennen, dass das System der Transzendentalphilosophie durch die metaphysische Trinität Welt, Mensch und Gott ausgedrückt werden kann. Das scheint ein abendländisches Ordnungsprinzip des Geistes zu sein. Wie aus der einen Vernunft die Dreiwertigkeit folgt, lässt sich nicht weiter begründen. Es ist ein Mysterium der einen menschlichen Vernunft und geht auf Griechentum und Christentum als die historischen Mächte zurück, die unser Denken vom Menschsein geformt haben. Eine zur platonischen Trias on, zoe nous analoge ist die Trias noeton (Denkobjekt, Sein, Welt), noesis (Denkakt, Leben, Ich, Mensch) und nous (Intellekt, Geist, Gott). Auf diese Weise bringt der Neoplatonismus die dynamische Dreieinheit des menschlichen Geistes zum Ausdruck[10]. Der Rückgang von Kant zu Plotin meint das Denken des Einen oder die eine Vernunft. „Neuplatonische Metaphysik ist darum in einem prägnanten Sinne Denken des Einen“ [5, S. 11]. Der neoplatonische Glaube gründet sich nicht auf Gottes Offenbarung, sondern nimmt seinen Anfang in der Erkenntnis des Menschen von der göttlichen Geordnetheit des welthaft Seienden [5, S. 324]. Man denke an das Heiligtum der Mathematik zu Zeiten der Vorsokratiker, oder einfach an das Erkennen der Ordnungen der Natur als solche. Bei Kant drückt sich das religiöse Bewusstsein im Sinne des moralischen Gewissens aus, denn „[…] wir haben kein anderes Richtmaß unserer Handlungen, als das Verhalten des göttlichen Menschen in uns, womit wir uns vergleichen, beurteilen, und dadurch uns bessern, obgleich es niemals erreichen können“ [AA, III, S. 384].

Die Dreiwertigkeit der Vernunft folgt, einer klassischen Lesart vorausgesetzt, aus der Architektur der Transzendentalphilosophie,[11] siehe den folgenden Text. Kant spricht von der Metaphysik der Natur und der Metaphysik der Sitten, nicht aber von der Metaphysik der Religion. Die Kantische Fragetrias definiert die Begriffstrias Sein (Wissen), Sollen (Handeln) und Hoffen (Glauben) und sei durch das folgende Kantzitat expliziert: „Daß der Mensch sich bewusst ist, er könne dieses, weil er es soll: das eröffnet in ihm eine Tiefe göttlicher Anlagen, die ihn gleichsam einen heiligen Schauer über die Größe und Erhabenheit seiner wahren Bestimmung fühlen lässt“ [AA, VII, S. 287]. Jene drei Ideenkorrelate sind eine Notwendigkeit der Vernunft in ihrem Gebrauch und in ihren interessierenden Erkenntnisformen, d. h. induktives Wissen, apriorisches Wissen und religiöses Wissen. Durch die Postulierung der Gleichursprünglichkeit aus der überseienden einen Vernunft wird jede Anmaßung einer der drei Vernunftarten begrenzt. Auch schon Martin Heidegger schreibt in seinem Nietzsche Band: Die Titel Kosmologie, Psychologie und Theologie — oder die Dreiheit Natur, Mensch, Gott umschreiben den Bereich, darin alles abendländisches Vorstellen sich bewegt.

II. Die Anmaßung der Sinnlichkeit und das Denkmodell der transzendentalen Trinität

 A. Phaenomenon, Homo Phaenomenon und Homo Noumenon

Durch Einführung des Begriffs Noumenon[12] im Gegensatz zum Phaenomenon leistet Kant in der Philosophiegeschichte Einmaliges. Dieser Begriff wurde einzig und allein gesetzt, um die Anmaßung der Sinnlichkeit zurückzuweisen bzw. einzuschränken. „Der Begriff eines Noumenon ist also bloß ein Grenzbegriff, um die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken, und also nur von negativem Gebrauche. Er ist aber gleichwohl nicht willkürlich erdichtet, sondern hängt mit der Einschränkung der Sinnlichkeit zusammen, ohne doch etwas Positives außer dem Umfange derselben setzen zu können“ [AA, III, S. 211] (Kursiv von U. F.W.) Die Natur in ihrer furchtbaren Macht — als natürliches oder moralisches Übel betrachtet — provoziert in uns ein übersinnliches Denken einer göttlichen Macht in uns. Es gibt noch ein weiteres Argument, warum das Subjekt als Noumenon aufgefasst wird. In Die Metaphysik der Sitten erörtert Kant die Pflicht gegen sich selbst[13]. Die Aussage, Pflicht gegen sich selbst, lässt sich nur dann nicht als Widerspruch auffassen, wenn man sich neben dem lebenden und rationalen Sinneswesen Mensch (Homo Phaenomenon) noch einen zweiten Menschen als Person denkt (Homo Noumenon). Der Mensch als Subjekt der Freiheit ist ein Homo Noumenon. Es „ist ein der Verpflichtung fähiges Wesen, und zwar gegen sich selbst (die Menschheit in seiner Person) betrachtet: so daß der Mensch, ohne in Widerspruch zu geraten eine Pflicht gegen sich selbst anerkennen kann“ [AA, VI, S. 418]. Der Mensch wird hier also in zweierlei Bedeutung betrachtet, ohne in Wiederspruch zu geraten. Das Noumenon, das hier im positiven Verstande[14] gemeint ist, spielt im Rahmen der Erfahrungsbildung und Erkenntnis der Natur gar keine Rolle. Der Begriff Homo Noumenon bildet das Zentrum für die praktische Vernunft und die Theologie. Damit lässt sich der Mensch als ein Doppeltes, nämlich als ein Mensch hier und jetzt und gleichzeitig als eine würdige Person mit allen Menschenrechten und — pflichten in Ansehung der Menschheit als Idee denken. Ein Mensch ist Homo Phaenomenon und Homo Noumenon zugleich, d. h. er ist ein Subjekt der Natur und ein Subjekt der Freiheit in der Welt der Erscheinungen (Phaenomena). Ich führe nun die folgende Abkürzung ein. Phaenomenon sei P, Homo Phaenomenon sei HP und Homo Noumenon sei HN. Die drei Begriffe sind nicht linear geordnet sondern zyklisch und bilden drei Substanzen P, HP und HN[15]. Drei Knoten implizieren genau drei Kanten[16], diese stellen Verhältnisse dar. Unser Denkmodell ist also ein Graph bestehend aus drei Subtanzen (P, HP und HN) und drei Relationen: 1. P-HP sei relational die theoretische Vernunft, mit „Wissen“ bezeichnet. 2. HP-HN sei relational die religiöse Vernunft, mit „Urteilen“[17] bezeichnet. 3. HN-P sei die praktische oder handelnde Vernunft, mit „Sollen“ bezeichnet. Weil damit wieder der Ausgangsknoten P (die Welt) erreicht ist, liegt in diesem Modell ein trinitarisch geschlossener Zyklus vor. Alle drei Vernunftarten wirken zusammen, jeweils zwei sind komplementär zueinander, stehen einer dritten vermittelnden gegenüber und sind durch diese verschränkt. Alle drei Vernunftarten sind gleichberechtigt und bilden systemisch die eine reine Vernunft. Diese eine absolute Vernunft ist unbegriffen und für uns unerreichbar.

Damit kommen wir zu drei Betrachtungsweisen oder Charakterisierungen des Menschen. 1. Phaenomenon (P), d. h. er ist ein sinnliches oder physikalisches Objekt in mitten anderer Objekte. 2. Homo Phaenomenon (HP), d. h. er ist ein lebendes und mit Verstand ausgebildetes denkendes und pflichtbegabtes Wesen. 3. Homo Noumenon (HN), d. h. der Mensch in seiner Person ist ein reines Geistwesen, das die Idee der Menschheit oder Gott in sich trägt und über alle Natur erhaben ist. HN ist und hat Welt, d. h. es besitzt „ein übersinnliches Vermögen (die Freiheit) und sogar das Gesetz der Kausalität, […]“ [AA, V, S. 435], sich selbst Zwecke oder Ereignisse zu setzen auf die es hofft oder an die es glaubt. Die Erkenntnis der Zwecke der Natur aus einer obersten Ursache oder Grundes stammt vom Menschen als HN betrachtet. Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und Politik, d. h. die diversen Verstandesleistungen — ich meine damit das Denken in Informatik und Kybernetik — stammt vom Menschen als HP, d. h. als rationales Naturwesen betrachtet. Der Mensch als reines Phaenomenon ist ein physisches Ding in der Raumzeit wie jedes andere. Das Dasein des Menschen „hat den höchsten Zweck selbst in sich, dem, soviel er vermag, er die ganze Natur unterwerfen kann […]“ [AA, V, S. 435].

Die drei Relationen haben noch eine weiter wichtige Interpretation, denn Kant spricht von verschiedenen Kausalitätsarten: die Kausalität durch Natur (KdN), Kausalität durch Gott (KdG)[18] und Kausalität durch Freiheit[19] (KdF). Diese drei Kausalitäten gliedern sich völlig zwanglos in die Dreiwertigkeit meines Vernunftmodells ein. Im Denkmodell bilden diese Kausalitätsarten die drei Relationen, in derselben Reihenfolge, P-HP = KdN, HP-HN = KdG und HN-P = KdF. Wir erkennen, dass der Beginn von KdN (in P) formal mit dem Ende von KdF (in P) zusammenfällt[20]. Damit ist gezeigt, dass diese beiden Kausalitäten, die auch relational mit Sein und Sollen bezeichnet werden, idealiter konvergieren können oder nicht. Der Mensch erweist sich demnach als ein Wesen, von dem wir annehmen müssen, „daß es seine Wirkungen in der Sinnenwelt von selbst anfange“, ohne dass „die Wirkungen in der Sinnenwelt darum von selbst anfangen dürfen“. Deshalb werden in und durch den Menschen „Freiheit und Natur, jedes in seiner vollständigen Bedeutung, bei eben denselben Handlungen“ [AA, III, S. 368]. ohne Widerspruch vereinigt. Wenn ich mir die Freiheit nehme aus Freiheit nicht zu lügen, kann ein Sollzustand leicht in einem Seinszustand in der Welt transformiert werden. Also werden bestimmte Ereignisse je nachdem geschehen, weil sie geschehen sollten. Die Geburt der Lüge oder des Wohlwollens, wenn ich so sagen darf, erfolgt im Rahmen der göttlichen Vernunft[21], nicht im Rahmen der theoretischen oder handelnden Vernunft.

B. Kants zweifaches Ich als Grund der dreiwertigen Vernunft

Im Anschluss an Abschnitt A, ist es nun wesentlich auf Kants zweifaches Ich hinzuweisen. Es kursiert heute im Begriff der „transzendentalen Differenz“[22] und ist eine bedeutsame Hinterlassenschaft Kants, die von der Einführung des Noumenon herrührt. Ich gebe hier wegen der Bedeutung das ganze Zitat wieder:

„Ich bin mir meiner selbst bewusst, ist ein Gedanke, der schon ein zweifaches Ich enthält, das Ich als Subjekt, und das Ich als Objekt. Wie es möglich sei, dass ich, der ich denke, mir selber ein Gegenstand (der Anschauung) sein, und so mich von mir selbst unterscheiden könne, ist schlechterdings unmöglich zu erklären, obwohl es ein unbezweifeltes Faktum ist; […]. Es wird dadurch aber nicht eine doppelte Persönlichkeit gemeint, sondern nur Ich, der ich denke und anschaue, ist eine Person, das Ich aber des Objektes, was von mir angeschaut wird, ist gleich anderen Gegenständen außer mir, die Sache. Von dem Ich in der ersteren Bedeutung (dem Subjekt der Apperzeption), dem logischen Ich, als Vorstellung a priori, ist schlechterdings nichts weiter zu erkennen möglich, was es für ein Wesen, und von welcher Naturbeschaffenheit es sei; es ist gleichsam, wie das Substantiale, was übrig bleibt, wenn ich alle Akzidenzien, die ihm inhärieren, weggelassen habe […]. Das Ich aber in der zweiten Bedeutung (als Subjekt der Perzeption), das psychologische Ich, als empirisches Bewusstsein, ist mannigfaltiger Erkenntnis fähig […]“ [AA, XX, S. 270]. [Kursiv von U. F.W.] Die transzendentale Differenz drückt den Unterschied des empirischen Ich (HP) von dem transzendentalen (HN) Ich aus. Der originelle Gedanke Kants ist die Einsicht, dass „Ich“ mehr ist als bloß die Gegenüberstellung zur kausalen Natur. Dadurch ist das Denken oder die Idee mächtiger als das Sein und die Anmaßung der Sinnlichkeit ist in ihre Schranken verwiesen. Dieses Faktum drückt sich in dem zweifachen Ich aus. Das natürliche Recht wird der Sinnlichkeit selbstverständlich nicht abgesprochen, wohl aber jede unrechtmäßige Machtergreifung. Die beiden Ich-Bedeutungen Kants bilden zwei Formen der Subjektivität. Ich bezeichne sie mit Ich1 in der ersten Kantischen Bedeutung und mit Ich2 in der zweiten Bedeutung. Demnach ist Ich1 das absolute und substantielle transzendentale Bewusstsein (HN). Es ist der formale Teil des Subjekts. Das empirische Bewusstsein ist das Ich2, es ist der materiale Teil des Ich (NP), das empirisch oder psychologisch von einem anderen Ich wahrgenommen werden kann. Ich1 weiß nur von sich selbst und ist von anderen so unerreichbar, wie das Jenseits oder Gott. Ich1 verhält sich zu Ich2 wie Subjekt zu Objekt oder wie Substantialität zu Akzidenzialität. Ich1 wirkt durch Kausalität aus Freiheit (KdF) auf die Welt und Ich2 durch Kausalität aus Natur (KdN). Mit dem obigen Denkmodells eines Dreiecks erkennt man, wie aus den beiden Ich-Zentren[23] die beiden grundverschiedenen Kausalitäten auf die eine Welt wirken. KdN geht auf Naturbegriffe und KdF auf Freiheitsbegriffe. KdN und KdF mögen ihre gemeinsamen Wurzeln in der polaren Urteilskraft (Ich1-Ich2) besitzen. Nur diese, so Kant, kann die endlichen Naturbegriffe mit den unendlichen Freiheitsbegriffen verbinden[24].

Das Ich verhält sich reflexiv zu sich selbst und macht sich zum eigenen Thema. Fichte entwickelte daraus die „Duplizität oder doppelte Reihe“ der Subjektivität, die seine Wissenschaftslehre strukturiert. Und Hegel schließlich entwickelte daraus u. a. seine triadische Methode, etwa in der Form: „Sein, Wesen und Begriff. Isomorph dazu ist die Hegelsche Geisttrinität objektiver, subjektiver und absoluter Geist[25].

III. Religiöse Vernunft und das Verhältnis Moral — Religion

Die Rede von einer religiösen Vernunft ist nicht unproblematisch. Kant behauptet wir können Moral nicht selbst begründen. Daher denken wir uns einen Gott mit übersinnlichen Eigenschaften und betrachten seine theonomen Gebote als unsere moralischen Pflichten. Kants Ethiktheologie besteht in der Einsicht, dass der Mensch als moralisches Wesen (HN), d. h. als Subjekt der Freiheit, sich die Welt als ein nach Zwecken zusammenhängendes Ganzes ohne die Vorstellung, dass ein Gott ist, nicht denken kann. Die religiöse Vernunft bildet den Vernunfthorizont des Menschen. Die transzendentale Sinnstiftung, d. h. der Sinn von allem führt automatisch zur Gottesfrage, weil die Vernunft immer das Unbedingte sucht. „Ohne also einen Gott, und eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt, sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung, weil sie nicht den ganzen Zweck, der einem jeden vernünftigen Wesen natürlich und durch eben dieselbe reine Vernunft a priori bestimmt und notwendig ist, erfüllen“ [AA, V, S. 527].

Das Interesse der Vernunft besitzt demnach auch spekulativ-religiöses Denken mit der Idee Gottes als Weltenschöpfer und moralischer Gesetzgeber. Nur der Mensch erfährt sich als gottsetzendes Bewusstsein sagt der alte Schelling, mit der Möglichkeit der totalen Leugnung der Existenz Gottes. Kirkegaard nennt den Menschen ein gottbezogenes Wesen. Spricht der Mensch von Gott, so spricht er immer auch von sich selbst. „Gott ist nicht ein Wesen außer mir, sondern bloß ein Gedanke in mir“ [AA, XXI, S. 145]. Was der Mensch als Gott verehrt, ist sein eigenstes Inneres herausgekehrt, so Goethe. Gott ist ein transzendenter Begriff als eine Idee der Vernunft und mit dem Verstand (HP) nicht zu fassen. Der Mensch tritt heraus als Herr der Natur, aber gleichzeitig fühlt er, dass sich in der geordneten und zweckmäßigen Natur etwas Höheres manifestiert. Diesem will sich der Mensch beugen, er fühlt, dass er es durch sein Gewissen soll, und er empfindet ein inneres Bedürfnis sich jener Macht hinzugeben, die das Ganze lenkt.

Es stellt sich nun die Frage, ob die religiöse Vernunft nicht bloß eine Implikation oder nur ein Epiphänomen der praktischen Vernunft ist. Denn Kant behauptet: „Die Frage ob ein Gott sei muß bloß aus Prinzipien der moralisch praktischen Vernunft abgeleitet werden“ [AA, XXII, S. 62]. Ferner führt die Moral, wie es an anderer Stelle heißt, unausbleiblich zur Religion. Im System des Kritizismus erscheint die Religion daher nicht als eigenständiger Vernunftgebrauch im Sinne einer religiösen Vernunft, sondern tatsächlich bloß als Zubehör der Ethik [AA, XI, S. 169]. Ist das wahr? Schon Kants Verweis auf die Gebote Gottes zeigt, dass Moral und Religion nicht zusammenfallen. Sie sind wechselseitig verbunden und dennoch unabhängig von einander. Kant hat oft betont, dass unsere Pflichten ganz unabhängig sind von den Hoffnungen auf ein jenseitiges Leben und dass daher auch die Moral ganz unabhängig von der Religion ist.

Zu dem von mir eingeführten Begriff der religiösen Vernunft greife ich auf einem Brief Kants vom 4. Mai 1793 an K. F. Stäudlin zurück: „Mein schon seit geraumer Zeit gemachter Plan der mir obliegenden Bearbeitung des Feldes der reinen Philosophie ging auf die Auflösung der Aufgaben: […] welcher zuletzt die vierte folgen sollte: Was ist der Mensch? […] Mit beikommender Schrift: Religion innerhalb der Grenzen […] habe die dritte Abteilung meines Plans zu vollführen gesucht, in welcher Arbeit mich Gewissenhaftigkeit und wahre Hochachtung für die christliche Religion […] geleitet hat […]“ [AA, XI, S. 429]. Dieser Brief verdeutlicht, dass Kant die „dritte Abteilung“ seiner Philosophie auszuführen gedachte. Meint Kant damit, ob eine dritte Vernunftkritik im Sinne des Vernunftgebrauchs einer religiösen Vernunft erforderlich ist? Nimmt man die Religionsschrift mit der Kritik der Urteilkraft zusammen, so müsste es möglich sein, zu zeigen, dass diese beiden großen Werke zusammengenommen eine Kritik der religiösen Vernunft bedeuten könnten. Es gibt viele Hinweise, z. B. geht die ästhetische Ethik in Religion über. „Das Christentum ist die einzige ästhetische Religion“[26]. Zu diesem Vernunftbereich gehört das Schöne, das Erhabene, das Gute, die Wahrheit und die Teleologie. Im Grunde sind das alles Begriffe, die nicht auf erkenntnistheoretische oder moralische Diskurse zu reduzieren sind. Das Numinose, d. h. die zugleich Vertrauen und Schauer hervorrufende Macht gehört auch zur religiösen Vernunft. Die teleologischen Vermögen der Urteilskraft haben eine konnotativ zukünftige Bedeutung nämlich das Hoffen neben dem Sein und Sollen. Teleologisches Denken findet seine Vollendung nur in einer Theologie[27]. Und Kant sagt auch, dass der Rechtsbegriff über das moralische Subjekt hinaus geht und daher nicht der praktischen Vernunft angehört. So spricht er von Gott als Idee des Rechts und weiter: „Alle Macht des Himmel steht auf der Seite des Rechts“ [AA, XIX, S. 224]. Ein moralischer Glaube an das unbedingte Zutrauen auf die göttliche Hilfe in Ansehung alles Guten und Wahrhaftigen, das bei unseren aufrichtigen Bemühungen doch nicht in unserer Macht steht, ist nichts weiter als religiöser Vernunftgebrauch. Unsere Zwecke sind als göttliche Gebote moralischer Natur und praktisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist. Für Kant war die Willensfreiheit das Hauptagens des Menschen, d. h. die treibende Kraft, das volitiv handelnde Wesen im Menschen. Die Ideen Welt, Willensfreiheit und Gott sind Regularien der Vernunft, sie garantieren uns logische, seelische und moralische Gewissheit[28]. Kant schreibt: „Religion ist Gewissenhaftigkeit“ [AA, XXI, S. 81] und: „Der Wille Gottes enthält wohl die größten motiva obligantia, aber nicht den Grund der Form des moralischen Gesetzes“ [AA, XIX, S. 35]. Die Bedingung der Möglichkeit von Moral ist der freie Wille im Menschen. Die Welt ist moralisch blind und die Idee Gottes greift nicht in den Primat der praktischen Vernunft ein; so ist der Mensch auf seine eigene Heautonomie, nämlich seinen eignen gesetzgebenden Willen allein angewiesen.

Der Mensch als eine philosophisch-anthropologische Einheit gesehen, ist demnach ein dreieinheitliches Subjekt, bestehend aus seiner natürlichen Körperlichkeit oder Welthaftigkeit (P), seinem volitiven und individuellen Bewusstsein (HP) und seiner Fähigkeit über die Grenzen seiner Vernunft zu transzendentieren und sich einen Gott zu denken „als ob“ er existiert (HN). Welt, Mensch und Gott sind für Kant „idealische Wesen“ [AA, III, S. 445], die man als drei Momente der einen Vernunft ansehen kann. Es sind drei verschiedene, sich umgreifende und bedingende Geiststrukturen, die im Menschen eine einzige unzerreißbare trinitarische Metastruktur darstellen. Ihren Ursprung hat diese Struktur in dem Einen, was ich als das Vernunftgeheimnis bezeichne.

IV. Transzendentalphilosophie ist Erkenntnis des Menschen von sich selbst der Welt und Gott. Zusammenfassung und Ausblick zum dreiwertigen Denken

Kritik der Vernunft bedeutet Besinnung auf die systematische Bestimmung der Vernunftgebrauchs in seinem prinzipiellen Vollzuge oder des kulturellen Vernunftlebens des Menschen als ein teilnehmendes Glied an der Idee der Menschheit. Nur so zeigen sich Funktionen und Grenzen der sinnlichen Erfahrung in Ansehung des Übersinnlichen. Der Mensch steht immer zwischen Erfahrung und Metaphysik, dazwischen erledigt er seine Lebensaufgaben durch Verstand und Anschauung. Wie und was sind die systematisch-strukturellen Wissensgrundlagen der Naturwissenschaften, der Sittlichkeit, des Rechts, der Politik, der Kunst und Religion die für alle Menschen gleichermaßen als ein Ganzes zu gelten haben? Hierauf gibt es keine endgültige Antworten, nur systematische Umschreibungen, Untersuchungen oder Analogien in Ansehung der metaphysischen Trinität Welt, Mensch und Gott.

Die Architektur der Kantischen Philosophie hat eine triadische Struktur. In dem Abschnitt Vom letzten Zwecke der reinen Vernunft in der Kritik heißt es, „Die ganze Zurüstung also der Vernunft, […], die man reine Philosophie nennen kann, ist in der Tat nur auf die drei gedachten Probleme gerichtet“ [AA, III, S. 520]. Und im Opus postumum schreibt der alte Kant eindringlich deutlich: „Gott, die Welt und das beide Objekte verknüpfende Subjekt, das denkende Wesen in der Welt“ [AA, XXI, S. 34]. Aus den drei Kantischen Fragen ergibt sich die systematische Gliederung der Philosophie, in der auch antike Traditionen enthalten sind: 1. Theoretische Philosophie (Wissen der Natur, on) 2. Praktische Philosophie (lebendiges Handeln aus Freiheit, zoe) 3. Religiöse Philosophie (Glauben und Hoffen vor Gott, nous). Theoretische, praktische und religiöse Vernunft als irreduzible Vernunftmomente bilden eine heterarchische Dreieinheit (unitas-trinitas). Die Kantische eine Vernunft als das Plotinische Eine, zeigt sich in ihrer Überfülle selbst in den drei Vernunftideen Welt, Mensch und Gott. In Analogie dazu kann auch die Vernunfttrias theoretische Vernunft, praktische Vernunft und urteilende Vernunft betrachtet werden. Den letzten dritten Begriff führe ich hier ein. Er folgt zwanglos aus der Kritik der Urteilskraft als subjektives Prinzip mit bestimmenden und reflexiven Vermögen. Denn so denke ich, ist religiöses Vermögen äquivalent mit der Urteilskraft, genauer mit der teleologischen Urteilskraft. Es ist nützlich an dieser Stelle auf einen Brief Kants vom 28. Dezember 1787 an Reinhold hinzuweisen. Kant schreibt von den drei Gemütskräften im Menschen und stellt begeistert fest, dass er nun „drei Teile der Philosophie erkenne deren jede ihre Prinzipien a priori hat die man abzählen und den Umfang der auf solche Art möglichen Erkenntnis sicher bestimmen kann — theoretische Philosophie, Teleologie und praktische Philosophie von denen freilich die mittlere als die ärmste an Bestimmungsgründen a priori befunden wird“ [AA, X, S. 514—515].

Die Welt verändert sich immer rasanter durch die Naturwissenschaften und Technik und der Mensch degradiert sich selbst zur technischen Existenz. Durch die technisch-wissenschaftliche globale Vernetzung ist die Weltgemeinschaft zu einer Schicksals-gemeinschaft geworden, in der jeder nur frei ist, wenn alle frei sind. Jeder Mensch sollte wissen, dass er die Menschheit in seiner Person enthält, allerdings setzt dieses Wissen dreiwertiges Denken voraus. Höchst bedrohlich stellte schon Nietzsche 1888 die Fragen, die uns in Zukunft umtreiben werden: „Es naht sich, unabweislich, zögernd, furchtbar wie das Schicksal, die große Aufgabe und Frage: wie soll die Erde als Ganzes verwaltet werden? Und wozu soll „der Mensch“ als Ganzes — und nicht mehr ein Volk, eine Rasse — gezogen und gezüchtet werden?“ [13, S. 959]. Reichen die klassischen Vernunftkonzepte aus, um auf diese Frage angemessen zu reagieren?

Der Deutsche Idealismus setzt die spekulative Einsicht voraus, dass das Denken mächtiger ist als das Sein. Und daher führt die Frage: woraus, wozu und wohin wir leben, zur Rede von Gott. Deutlich bringt es Hegel auf den Punkt, in dem er sagt: „Von der Größe und Macht des Geistes kann er [der Mensch, U.F.W.] nicht groß genug denken; das verschlossene Wesen des Universums hat keine Kraft in sich, welche dem Mute des Erkennens Widerstand leisten könnte; es muß sich vor ihm auftun und seinen Reichtum und seine Tiefen ihm vor Augen legen und zum Genusse bringen“ [10, S. 404][29]. Jede naturalistische Auffassung[30], die sich in den Bio-Wissenschaften, der Hirnforschung und der weltweiten Technik objektiviert und damit für die drohende ökologische wie ökonomische Katastrophe mit verantwortlich ist, setzt das zweiwertige Denken in Form der zweiwertigen Logik voraus. Mit den obigen Abkürzungen bedeutet das, es gibt nur P und HP, d. h. die Welt und Ich. Diese Vernunftzweiwertigkeit setzt eben bloß zweiwertiges Denken voraus. Religiöse Vernunft, Ästhetik oder Metaphysik hat hier keinen Platz, ist sinnlos im Rahmen des zweiwertigen Denkens[31].

Die Prinzipien der Transzendentalphilosophie erweitern das zweiwertige Denken durch die dreiwertige Vernunft, definieren die doppelte Subjektivität (Ich1 und Ich2) und weisen jedes dogmatische zweiwertige Denken zurück. Aus der Dreiwertigkeit der Vernunft folgt das dreiwertige Denken, das eine Transklassische Logik begründet [18; 20]. Antagonistisches Denken schließt die dreiwertige Vernunft absolut aus. Das bedeutet, dass der ganze Mensch zu jeder Zeit sich seines dreifachen Vernunftgebrauches bewusst sein muß. Das Denken in Wahr- und Falschaussagen im Sinne der zweiwertigen Aristotelischen Logik greift zu kurz, geht es um den ganzen Menschen. „Die mörderischen Ideologien des 20. Jahrhunderts sind aus der Perspektive der transklassischen Logik nichts anderes als krampfhafte Endspiele der Zweiwertigkeit, militante Verweigerungen des Komplexitätsdenken“ [16, S. 354].

Der Mensch mit seinem Welt-, Selbst- und Gottesbewusstsein[32] muss eine Konvergenz von profanen Weltdingen und religiösen Glaubensüberzeugungen anstreben[33]. Das religiöse Bewusstsein[34] ist Voraussetzung für das Anerkennungsprinzip[35], das einem anderen Menschen seine Freiheit garantiert. Wir spüren wie religiöses Bewusstsein, als eines der drei Grundmomente des Menschen neben dem theoretischen und praktischen Bewusstsein anzusetzen ist. Alle drei Vernunftarten bilden ein Ganzes, nämlich die „eine Vernunft“ Kants[36]. Nur ein dreiwertiges Denken, dass in seinem Wesen dialektisch ist, kann die Menschheitsprobleme der Zukunft sinnvoll begegnen. So ist der Mensch ein dreiwertig, d. h. ein ontologisches, egologisches und theologisches denkendes Geschöpf der Mitte, aber nicht eines, das in der Mitte beschlossen und endgültig ruht.[37] Sondern es oszilliert als dynamische Grenze zwischen dem unbefriedigt-endlichen Faktischen und dem unendlich möglichen Besseren hin und her. Lassen wir uns durch die Zuversicht des Kantischen Denkens leiten, nämlich durch seine These von der Unmöglichkeit des totalen Irrtums: „Nie kann der Mensch ganz und gar irren. Scheint es uns bisweilen, so haben wir den Menschen nicht verstanden“ [AA, XXIV, S. 825].

Literaturverzeichnis

1. Anzenbacher A. Einführung in die Philosophie // Freiburg, 2002.

2. Aristoteles’ Physik, Erster Halbband, Buch II — Kapitel 7, 198a // Hamburg, 1987.

3. Beierwaltes W. Platonismus und Idealismus // Frankfurt, 2004.

4. Beierwaltes W. Procliana, Spätantikes Denken und seine Spuren // Frankfurt a. M., 2007.

5. Beierwaltes W. Proklos — Grundzüge seiner Metaphysik // Frankfurt a. M., 1979.

6. Bröcker W. Kant über Metaphysik und Erfahrung // Frankfurt a. M., 1970.

7. Christlicher Platonismus, Die theologischen Schriften des Marius Victorinus. Übersetzt von P. Hadot u. U. Brenke // Artemis, 1967.

8. Fichte J. G. Werke, Zur theoretischen Philosophie // I. H. Fichte (Hrsg.) Berlin, 1971. Bd. I.

9. Halfwassen J. Plotin und der Neuplatonismus // Heidelberg, 2004.

10. Hegel G. W. F. Werke in 20 Bänden, Bd. 10, Berliner Antrittsvorlesung vom 22.10.1918 // Red. E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt, 1970.

11. Heintel E. Gesammelte Abhandlungen, z. B // Stuttgart, 1996. Bd. 5.

12. Kant I. Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein taugt aber nicht für die Praxis // Weischedel-Ausgabe, 1977. Bd. XI.

13. Nietzsche F. Werke Taschenbuch-Ausgabe, Bd. X, Der Wille zur Macht, IV Buch: Zucht und Züchtung, 4. Die Herren der Erde // Leipzig, 1919.

14. Platon, Der Sophist (Sophistes) 248 E. Übersetzt von F. Schleiermacher // Berliner Ausgabe von 1940, Heidelberg, 1982.

15. Rosenkranz K. Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben. // Darmstadt 1963.

16. Sloterdijk P., Heinrichs J. Die Sonne und der Tod — Dialogische Untersuchungen // Frankfurt, 2001.

17. Vorländer K. Immanuel Kant — Der Mann und das Werk // Fourier-Verlag, 2003.

18. Wodarzik U. F. Fichte als Begründer der dreiwertigen Logik — Zur transklassischen Reflexionslogik und Günthers Ich-Du-Es Trinität (Halle 2006) // Fichte-Studien. Beide Arbeiten befinden sich im Druck.

19. Wodarzik U. F. Objektivität, Leben und Normativität. Zwischen Naturgesetz und Sittengesetz, Moskauer Kant-Kongress 2004 // Motroschilova N. (Hrsg.) Moskau, 2007.

20. Wodarzik U. F. Transklassische Logik und Hegels politische Philosophie — Wende zum dreiwertigen Zeitalter (Poznan 2006) // Hegeljahrbuch, 2008.

21. Wodarzik U. F.: Über die metaphysische Trinität Welt, Mensch und Gott // Akten des X. Internationalen Kant-Kongresses (Sao Paulo 2005). Berlin, 2008. Bd. 2.

 

Die erste Veröffentlichung des Aufsatzes:

Wodarzik, Ulrich F.. Dreiwertige Vernunft als Kants Testament// 10. Internationale Kant Konferenz. Klassische Vernunft und die Herausforderungen der modernen Zivilisation: Materialien der internationalen Konferenz: in 2 Bd. Hrsg. W.N. Brjuschinkin. – Kaliningrad: Verlag der Immanuel Kant Universität Kaliningrad, 2010. Band. 2, S. 268 – 287.


[1] „Transzendentalphilosophie ist das philosophische Erkenntnissystem welches a priori alle Gegenstände der reinen Vernunft in einem System notwendig verbunden darstellt. Diese Gegenstände sind Gott, die Welt und der dem Pflichtbegriff unterworfene Mensch in der Welt“ [AA, XXI, S. 81]. Alle Zitate aus der Akademieausgabe sind in moderner Grammatik geschrieben. Zitate im Text und in Fußnoten aus der Akademie-Ausgabe sind durch (Band, Seite), d.h. [AA, XXI, S. 81] angegeben.

[2] Diese drei Lehrstücke folgen aus den drei Vernunftschlüssen der einen Vernunft; in meiner gewählten Reihenfolge sind das: 1. Hypothetischer Schluss (Naturgründe), 2. Kategorischer Schluss (moralisches Subjekt) und 3. Disjunktiver Schluss (Idee Gottes).

[3] Hervorhebung von Kant. Ferner: „Es gibt nur drei Ideen der reinen Philosophie“ [AA, XXI, S. 90].

[4] „Daß die Dreiheit das Gesetz des Geistes sei, ist ächt Platonisch; die ganze Republik hat eine triadische Construktion. Hegel bezog die Triplizität vorzüglich auf den Unterschied des Subjects vom Object in der Identität des Subjects“ [15, S. 158].

[5] Hervorhebung von Kant. Der urteilende (denkende) Mensch ist hier das vermittelnde Moment zwischen der einen Welt und dem einen Gott. Kant spricht von der spekulativen Vernunft als einen „Gliederbau“ [AA, III, S. 22]. In der Kritik der Urteilskraft argumentiert Kant mit der Dreiheit Verstand, Urteilskraft und Vernunft, wobei die Urteilskraft „ein Mittelglied zwischen dem Verstande und der Vernunft“ sein soll. Kant fühlt sich genötigt dies zu rechtfertigen, vgl. die Fußnote unter: IX. Von der Verknüpfung der Gesetzgebungen des Verstandes und der Vernunft durch die Urteilskraft [AA, V, S. 195].

[6] Das ist keine kantische Bezeichnung, Ich setze diesen religiös konnotativen Vernunftbegriff in unabhängiger Weise neben den beiden schon von Aristoteles verwendeten Vernunftbegriffen, d. h. der theoretischen und der praktischen Vernunft.

[7] Sie bedeutet eine revolutionäre Zäsur in der Geschichte der abendländischen Philosophie.

[8] Bei Anzenbacher [1] beherrscht dieser platonische Gedanke mit Recht sein hervorragendes Buch. Ferner dazu wesentlich [3].

[9] Plotin nennt den Urgrund für Alles das Eine selbst (auto to hen). Das Eine ist der Grund seiner selbst (causa sui). Bei Plotin lässt sich die Tendenz erkennen, dass das Eine in seiner Bewegung als Intelligenz sich zu einem dreifachen Prozess beschreiben lässt, in dem das Sein, das Leben und das Denken aufeinander folgende Phasen darstellen. Vgl. Plotin, Enneaden VI 7, 13, 28—42, zitiert nach: [7, S. 8]. Die Intelligenz oder der Geist hat eine innewohnende Vielfalt in Form der Dreiheit. Das Sein wird durch das Leben mit dem Denken verschränkt und umgekehrt; in vollständiger Harmonie verschmilzt die Dreifaltigkeit zur absoluten Einheit, d. h. in das Eine. Für Plotin gründet auch der Geist (nous) wie das Sein (ousia) in dem absoluten Einen, das selbst jenseits des Geistes und jenseits des Seins steht.

[10] Der Zusammenhang zwischen dem Denken Kants und der neoplatonischen Tradition ist eine eigene Arbeit. Hier sollte nur darauf hingewiesen werden, weil die Triadik als entfaltete Struktur des Einen, des Absoluten oder der einen Vernunft, nach meiner Auffassung, in der Transzendentalphilosophie eine relativ bedeutsame und bisher übersehende Rolle spielt. Vgl. dazu [3].

[11] „Ich verstehe unter Architektonik die Kunst der Systeme“ [AA, III, S. 538].

[12] Der Begriff Noumenon (Geistwesen) stammt aus dem Platonismus und Neoplatonismus. Auch lapidar Ding an sich von Kant genannt. Dieser Begriff hat Anlass zu vielen überflüssigen Missverständnissen geführt und Unmengen von gedruckten Seiten verursacht oder provoziert. Man sollte sich an den berühmten Fichteausspruch erinnern: Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist.

[13] Der Pflichtbegriff, von Kant in die Philosophie eingeführt, ist ein noumenaler Begriff. Das dialektische Begriffspaar Pflicht und Freiheit widersprechen sich und bedingen sich in Kants Ethik.

[14] Der Begriff des Noumenon im positiven Sinne des Verstandes gemeint bleibt metaphysisch problematisch. Noumenon, also das Ding an sich als ein Gedankending, im negativen Verstande gemeint, bedeutet, dass es den Grund der Phaenomena bildet. „Unsere Erkenntnis ist Erkenntnis vom Seiendem, das unabhängig von uns schon ist“ [6, S. 84].

[15] Man denke sich dazu eine zweidimensionale Graphik in Form eines gleichseitigen Dreiecks mit den Knoten P, HP und HN. Unter Substanz verstehe ich für sich Seiendes, d. h. unabhängig von anderen.

[16] Die Begriffe Knoten und Kanten sind in der Graphentheorie gebräuchlich.

[17] Urteilen lese ich auch als Ur-teilen (Hölderlin) Siehe dazu die Urteilung des Ich in Ich1 und Ich2, die im Prinzip Kant vollzogen hat, Abschnitt II. B.

[18] Dazu gibt es bei Kant nur einen bescheidenen Hinweis, den ich aber sehr ernst nehme. Kant spricht analogisch in der Kritik der Urteilekraft von der „göttlichen Kausalität“ [AA, V, S. 465].

[19] Vgl. [AA, III, S. 366]. „Wären Erscheinung, d. h. die Vorstellungen Dinge an sich, wäre die Freiheit nicht zu retten“ [AA, III, S. 365]. Wenn also die Gegenstände nur Erscheinungen sind, also nur von uns nach empirischen Gesetzen (HP) vorgestellte Dinge, „so müssen sie selbst noch Gründe haben, die nicht Erscheinungen sind“ [AA, III, S. 365]. Die Gründe liegen in unserer Vernunft und diese kann kausal wirken.

[20] KdN sei Wirkursache, KdF Formursache und KdG Zielursache; diese Begriffe entnehme ich aus Aristoteles, „Nun gehen aber die drei oft in eins zusammen“ (coincidunt in unum). Im Sinne des Zusammenfalls aller Gegensätze, coincidentia oppositorum. Vgl. [2, S. 85].

[21] In diesem Reich herrscht die ästhetische wie auch die teleologische Urteilskraft.

[22] Siehe dazu die intensiven Bemühungen von Heintel diese Aporie in den Griff zu bekommen [11, S. 360—367].

[23] Ich nenne sie, die exogene Subjektivität Ich2 (HP) und die endogene Subjektivität Ich1 (HN).

[24] Wie sie das zustande bringt, scheint ein Mysterium der Vernunft zu sein. Wir begreifen eben nur ihre Unbegreiflichkeit.

[25] Hegels Urtrias ist Logik, Natur und Geist, vgl. seine Enzyklopädie (=Kreislehre).

[26] Brief von Schiller an Goethe, 17. August 1795.

[27] Aristoteles wie auch Thomas v. Aquin dachten den Zusammenhang von Teleologie und Theologie.

[28] Bei Kant gründet sich die Religion auf die Moral und nicht umgekehrt. Die Ethiktheologie oder Vernunftreligion Kants zeigt deutlich, wie der Mensch mit seiner Willensfreiheit im Zentrum zwischen seinen Ideen Natur und Gott steht. Es gibt hier keinen Widerspruch zwischen einer göttlichen Vorsehung und der Willensfreiheit. Die Offenbarung Gottes in der Welt ist das moralische Verhalten des Menschen, Konvergieren Sinnlichkeit und Sittlichkeit führt das zum Reich Gottes auf Erden.

[29] Das Grundmotiv des Deutschen Idealismus von Kant bis Hegel ist die Zurückweisung der Anmaßung der Sinnlichkeit! Der denkende Denker ist immer mächtiger als das Sein!

[30] Diese unterstützt — ohne es wirklich zu wissen — massiv die Anmaßung der Sinnlichkeit. Der Mensch steht dieser Auffassung gemäß bloß der Welt gegenüber und die Rede von der gottgegebenen Menschheit ist ausgeblendet. Zweiwertige Vernunft oder zweiwertiges Denken beherrscht das vergangene und das zeitgenössische Denken in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik.

[31] Zweiwertiges Denken fundiert alle Wissenschaften und ist deshalb unglaublich erfolgreich. Man sehe sich bewusst unsere technisch veränderte Welt der letzten 100 Jahre an. Aber es entwickelt sich bereits eine „technische Endzeitstimmung“ in der globalisierten Welt als Haus der Menschheit.

[32] Isomorph dazu ist die Trias Welt — Mensch — Menschheit (=Ding — Denken — Idee).

[33] Die sinnliche Gewissheit und das religiöse Denken bilden die beiden Antipoden des Menschen.

[34] Die Religion ist der Ort, wo ein Volk sich die Definition dessen gibt, was es für das Wahre hält, sagt Hegel.

[35] In der Anerkennung objektiviert sich der Glaube an Gott durch Agape.

[36] Die Trias Sein-Leben-Geist bzw. Physik-Ethik-Logik ist von Kant bekanntlich voll und ganz akzeptiert: „Die alte griechische Philosophie teilte sich in drei Wissenschaften ab: Die Physik, die Ethik, und die Logik. Diese Einteilung ist der Natur der Sache vollkommen angemessen, und man hat an ihr nichts zu verbessern […]“ [AA, IV, S. 387]. Hervorhebung von Kant.

[37] Man beachte was Kant über die Logik selbst sagte: „Die Logik ist selbst Philosophie“ [AA, XVI, S. 6].