Bernd Dörflinger. Kants Jesus

 

Bernd Dörflinger

Bernd Dörflinger

Nur die Vernunftreligion erfüllt nach Kant auf adäquate Weise das „große Erfordernis der wahren Kirche”, das in der „Qualifikation zur Allgemeinheit” bzw. der „Gültigkeit für jedermann” [AA, VI, S. 157] besteht. Das ist so, weil sie als moralische Religion keine anderen als die universellen Morallehren enthält. Was sie zur Religion macht, ist, dass sie die moralischen Gesetze als göttliche Gesetze lehrt. Der Gedanke an Gott als moralischen Gesetzgeber steht dabei nicht im Widerspruch zur Autonomie der Moral, denn er ist ein zusätzlicher, ein abgeleiteter Gedanke unter Voraussetzung dieser Autonomie. Die Grundlegung der Moral betreffend, setzt der Mensch selbst, und zwar ohne den Beistand eines höheren Wesens, bloß vermöge seiner eigenen reinen praktischen Vernunft die moralischen Imperative, das sind Gesetze der Selbstverpflichtung, in Geltung [AA, VI, S. 3]. Wenn er aber über die Folgen moralischen Verhaltens in der Welt reflektiert, wird er nach Kant notwendig auf eine Idee von Gott geleitet, wonach dieser erforderlich ist, um ein Vernunftdefizit dieser Welt zu heilen. Es ist das Defizit, dass in der Welt der Nexus zwischen Moralität, d. i. zugleich die Würdigkeit, glücklich zu sein, und tatsächlichem Glück kein notwendiger ist und nicht in der Gewalt des Menschen steht. Der gedachte Gott nun, der um der Überwindung dieses Defizits, d. h. um der vollständigen Rationalität im Verhältnis zwischen Moralität und Glückseligkeit willen gedacht ist, wird keine andere Gesetzgebung als für die Menschen verbindlich erachten können als die, die diese kraft reiner praktischer Vernunft schon für sich selbst verbindlich gemacht haben. Das heißt: Dieser Gott wird als zur selbsteigenen Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft im Menschen hinzukommend gedacht, sozusagen als zweiter moralischer Gesetzgeber, als die veräußerlichte Gestalt jener reinen praktischen Vernunft.

Dieser weitestgehenden Koinzidenz zwischen reiner Morallehre und Vernunftreligion entsprechend, handelt Kant in seiner Religions-schrift von einer Idee, die ihrem wesentlichen Gehalt nach beiden zu-gehört. Es ist die Idee moralischer Perfektion, insofern sie durch eine Person in individuo repräsentiert sein soll. Dem minimalen Unter-schied zwischen reiner Morallehre und Vernunftreligion Rechnung tragend, heißt diese Idee in der religionsneutralen Bezeichnung „personifizierte Idee des guten Prinzips” [AA, VI, S. 60] und in der Variante der Vernunftreligion, die den Gesichtspunkt des darin gedachten Gottes einbezieht, Idee des „Gott wohlgefällige[n] Mensche[en]” [AA, VI, S. 60]. Die Religionsidee bezeichnet Kant auch als die Idee des Gott „eingeborene[n] Sohn[s] ” [AA, VI, S. 60].

Diese Bezeichnung ist ersichtlich metaphorisch — eine buchstäbliche Lesart verbietet sich schon wegen der darin enthaltenen Restriktion auf ein Geschlecht —, sie erzwingt aber sogleich eine Assoziation über die Vernunftreligion hinaus. In den Blick kommt eine historische Religion, die christliche, die ihre Zentralgestalt, Jesus von Nazareth, als eingeborenen Sohn Gottes und als historische Verwirklichung moralischer Vollkommenheit behauptet. Es stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob sie auch nach den Rationalitätskriterien Kants als solche gelten kann. Wenn ja, dann hätten wir den außergewöhnlichen Fall zu konstatieren, dass die objektive Realität bzw. die empirische Konkretisierung einer reinen praktischen Vernunftidee zu behaupten wäre, eben der Idee des personifizierten guten Prinzips. Durch die Idee der moralischen Vollkommenheit einer Person wäre im Fall der Bestätigung nicht bloß ein Gedankending gedacht, das nur als regulative Idee dienen kann, sondern es könnte ein Mensch, der existiert hat, genannt werden, durch den sie realisiert wurde.

Vor der dazu fälligen Prüfung sollte aber noch erwogen werden, was der Fall des Mißlingens zu bedeuten hätte, wenn Jesus vor der Vernunft also nicht als Exemplifikation der Idee des personifizierten Guten gelten könnte. Dazu ist sogleich schon zu sagen, dass es die Dignität der Idee als solcher nicht berührte, denn, so Kant: „Es bedarf keines Beispiels der Erfahrung, um die Idee eines Gott moralisch wohlgefälligen Menschen für uns zum Vorbilde zu machen; sie liegt als ein solches schon in unserer Vernunft” [AA, VI, S. 62]. Kant vergleicht die von Erfahrung unabhängig wirksame orientierende Funktion dieser Idee mit dem Gehorsamsgebot des Sittengesetzes, das seinerseits auch dann in Geltung wäre, „wenn es […] nie einen Menschen gegeben hätte, der diesem Gesetze unbedingten Gehorsam geleistet hätte” [AA, VI, S. 62].

Als reine Vernunftidee ist demnach die Idee des personifizierten Guten von keinem existierenden Menschen in der Erfahrung, also auch nicht von Jesus, abgenommen. Im Gegenteil setzt sie erst den Maßstab für eine Prüfung, ob existierende Personen, unter ihnen Jesus, ihr genügen oder genügt haben und also als Beispiele für ihre Verwirklichung in der Erfahrung gelten können. Diese Art des Zu-gangs stellt eine Spezifikation des Grundprinzips der Kantischen Bibelhermeneutik dar, dass nämlich die Bibel nach der Moral und nicht die Moral nach der Bibel ausgelegt werden müsse [AA VI, 109ff., bes. 110 Anm.]. Es drückt sich dadurch der Primat der praktischen Vernunft vor jeder vermeinten Offenbarung aus, oder anders, der Primat der Vernunftreligion vor jeder historischen.

Nach Kants Darstellung ist es im Wesentlichen zweierlei, worüber uns die Bibel im Ton des Erfahrungsberichts, also mit dem Anspruch auf empirische Wahrheit, Mitteilung machen will, um uns von Jesus als der objektiv realen personifizierten Idee des Guten zu überzeugen. Zum einen ist es sein „gänzlich untadelhafte[r], ja so viel, als man nur verlangen kann, verdienstvolle[r] Lebenswandel” [AA, VI, S. 62], zum anderen sind es „seine Lehren” [AA, VI, S. 66].

Auf die Wunder, die die Bibel Jesus zuschreibt, möchte ich hier aus Zeitgründen nicht näher eingehen. Dass Kant die biblischen Wundererzählungen verwirft, mindestens im Sinne von Erfahrungsberichten, was allenfalls eine symbolische Deutung offen lässt, wird nicht weiter überraschen. Einer seiner Gründe dafür, ihre buchstäbliche Lesart abzulehnen, ist allerdings auch in unserem Zusammenhang relevant. Ein wundertätiger Jesus wäre über die Menschengattung erhoben und eignete sich nicht mehr dafür, an seinem Fall paradigmatisch die Situation des natürlichen Menschen zu erwägen. Die Annahme seiner vollständigen Zugehörigkeit zur Gattung der natürlichen Menschen gilt auch für seinen moralischen Status.

Denn ihm von vornherein keine „errungene, sondern angeborne unveränderliche Reinigkeit des Willens” [AA, VI, S. 64] zu unterstellen, ihn also als einen „Heiligen” in der „Erhebung […] über alle Gebrechlichkeit der menschlichen Natur” [AA, VI, S. 64] vorauszusetzen, hätte zur Folge, dass seine „Distanz vom natürlichen Menschen so unendlich groß” wäre, dass er als göttlicher Mensch für den natürlichen „nicht mehr zum Beispiel aufgestellt werden könnte” [AA, VI, S. 64]. Auf diese Weise der Gattung nach vom natürlichen Menschen unterschieden, hätte er für die Praxis dieses natürlichen Menschen keinerlei Relevanz. Jesus also nicht als von jener angeborenen unveränderlichen Reinigkeit des Willens zu unterstellen, heißt, ihm auch jenen Hang des natürlichen Menschen zuzuschreiben, den Kant den Hang zum Bösen nennt und den er in seiner Theorie des Bösen in der Freiheit des Menschen verwurzelt sieht, die sowohl Freiheit zur Moral als auch Freiheit zur Amoral ist. War Jesus, so läßt sich nun fragen, obwohl vollständig den Bedingungen des natürlichen Menschen unterworfen, dennoch jener wirkliche Fall der Vernunftidee des personifizierten Guten? Hat er also seine Freiheit nie zur Amoral mißbraucht?

Um seine moralische Perfektion bejahen zu können, muss eine Forderung erfüllt sein, die Kant selbst so formuliert: Es „muss […] eine Erfahrung möglich sein, in der das Beispiel von einem solchen Menschen gegeben werde” [AA, VI, S. 63]. Ersichtlich ist der hier verwandte Erfahrungsbegriff nicht der theoretischer Vernunft, wo-nach verlangt ist, dass der Gegenstand der Erfahrung durch schematisierte Kategorien, angewandt auf sinnliche Anschauung, also unter Einschluss von Empfindungsqualitäten, erkannt werde. Die geforderte Erfahrung müsste eine Erfahrung praktischer Vernunft sein, Resultat der Anwendung praktischer Urteilskraft, für die erkennbar sein müsste, dass der Lebenswandel eines Menschen der adäquate Fall der Idee der moralischen Perfektion einer Person ist. Wenn das möglich sein sollte, hätten wir es, gemessen an der allgemeinen Ideenlehre Kants, mit einem Ausnahmefall zu tun, denn nach dieser Lehre kann es für keinen Gegenstand, der durch eine Idee der Vernunft gedacht wird, eine adäquate Erfahrungserkenntnis geben.

Dass Kant sich dieser Problematik bewusst war, zeigt sich daran, dass in dem Absatz, der mit der zitierten Forderung nach der Erfahrung eines solchen mit der personifizierten Idee des guten Prinzips kongruierenden Menschen beginnt, lauter Einschränkungen folgen. Der Forderung nach dieser Erfahrung fügt er sogleich hinzu: „so weit als man von einer äußeren Erfahrung überhaupt Beweistümer der innern sittlichen Gesinnung erwarten und verlangen kann” [AA, VI, S. 63]. Auch die Antwort darauf, wie weit man denn von einer äußeren Erfahrung — also etwa von dem, was vom Lebenswandel Jesu in die Augen fiel — jene Beweistümer erwarten kann, bleibt er nicht schuldig. Diese Antwort nimmt das anfängliche Erfahrungspostulat nahezu vollständig zurück und lautet: Dem „Urbild […] in der Vernunft” [AA, VI, S. 63] — also dem des personifizierten Guten — ist „kein Beispiel in der äußeren Erfahrung adäquat […], als welche das Innere der Gesinnung nicht aufdeckt” [AA, VI, S. 63]. Wenn demnach vom Inneren einer Gesinnung, d. i. von dem, was für die Beurteilung moralischer Qualität allein entscheidend ist, keine äußere Erfahrung möglich ist, dann verbleibt — zumindest vorerst — für jene doch geforderte Erfahrung nur der Charakter einer inadäquaten Erfahrung.

Wenn es nun auch zum Inneren einer Gesinnung keinen direkten Zugang gibt, so muss doch ein indirekter möglich sein, wenn das Erfahrungspostulat nicht ganz obsolet werden soll. Auch eine inadäquate Erfahrung muss sich auf irgend etwas Gegebenes stützen, wenn sie überhaupt den Namen der Erfahrung verdienen soll. Dieses in der Erscheinung Gegebene ist das, was bei Kant durchgängig als „Lebens-wandel” bezeichnet ist. Der Lebenswandel, der in gewisser Weise vor Augen liegt, obwohl nicht so, wie die Gegenstände sinnlicher Anschauung theoretischer Vernunft vor Augen liegen, ist es, von dem her sich auf das Innere von Gesinnungen, so Kant, „nur schließen läßt” [AA, VI, S. 63]. Der Lebenswandel also gilt praktischer Urteilskraft als Zeichen, Ausdruck oder Folge innerer Gesinnung. Von ihm her müsste sie einen indirekten Zugang zu Gesinnungen gewinnen können.

Obwohl damit korrekt beschrieben sein dürfte, wie in der Tat allenthalben moralisch geurteilt wird, bliebe Kant doch hinter den eigenen Standards zurück, wenn er sich hinzukommend zur „quid facti”-Frage nicht auch zur „quid iuris”-Frage äußerte, also zur Frage nach Tragfähigkeit und Legitimation solchen Schließens. Seine Aussage dazu in der hier diskutierten Passage lautet: Dieses Schließen geschieht „nicht mit strenger Gewißheit” [AA, VI, S. 63]. Wenn dem so ist, dann kann von keinem Menschen jemals mit strenger Gewißheit gesagt werden, er sei in der Tat ein Verwirklichungsfall der Vernunftidee des personifizierten guten Prinzips.

Über das Bisherige hinaus liefert Kant andernorts in der Religionsschrift so weit gehende Argumente gegen die Erscheinungen menschlichen Handelns als tragfähige Anhaltspunkte für moralische Beurteilungen, dass von jenem Postulat, es müssten Beispiele der Verwirklichung der Idee des personifizierten Guten erfahren werden können, letztlich nichts übrig bleibt. Im Kontext seiner Theorie des Bösen führt er aus, der Mensch könne das Bedingungsverhältnis der Triebfedern in sich so umkehren, dass er die Befriedigung der sinnlichen zur Bedingung der Befolgung der sittlichen mache, welches der Fall einer bösen Gesinnung ist. Und doch könnten die erscheinenden Handlungen „gesetzmäßig” ausfallen, „als ob sie aus echten Grunds-ätzen entsprungen wären” [AA, VI, S. 36]. Als Beispiel führt er an, es könne Wahrhaftigkeit um der Vermeidung von Nachteilen aus dem Lügen willen zur Maxime erhoben werden, aus einem sinnlichen Motiv also; damit sei zwar „der empirische Charakter gut, der intelligible aber immer noch böse” [AA, VI, S. 36]. Anders gesagt: Der Lebens-wandel in der Erscheinung mag in nichts zu beanstanden sein, und doch kann ihm böse Gesinnung zugrunde liegen. Es kann überdies manche Erscheinung den Anschein einer Pflichtverletzung erwecken, es aber doch nicht sein. Bei einem solchen Verhältnis zwischen er-scheinenden Handlungen und inneren Gesinnungen werden moralische Beurteilungen unter dem Gesichtspunkt ihrer rationalen Legitimation vollends fragwürdig. Auch wenn sie im Leben nicht zu vermeiden sein sollten, was das ganz geläufige Schlussfolgern vom Lebenswandel auf Gesinnungen nahelegt, hätten solche Beurteilungen doch nur den Rang faktischer Unvermeidlichkeit und niemals den, dass sie Anspruch auf Notwendigkeit machen könnten. Das aber wäre erforderlich, um zu behaupten, ein bestimmter Mensch sei ein tatsächliches Beispiel für die Verwirklichung der personifizierten Idee des guten Prinzips.

Kants Skepsis in Hinsicht auf Gewißheit im Punkt der Moralität von Gesinnungen ist so groß, dass er diese Gewißheit sogar im Selbst-verhältnis eines Subjekts für nicht zu erzielen möglich hält. Der Mensch kann, so Kant, „von seiner wirklichen Gesinnung durch unmittelbares Bewußtsein gar keinen sichern und bestimmten Begriff bekommen” [AA, VI, S. 77]. Wenn er seinen eigenen „Charakter wenigstens einigermaßen kennen” [AA, VI, S. 77] lernen will, so ist dazu Reflexion und Selbstbeurteilung nötig, durch die über die Punktualität unmittelbaren Bewusstseins hinaus, nämlich die ganze Lebensspanne umfassend, die Geschichte der Gesinnungen und der ihnen korrespondierende Lebenswandel zu prüfen sind. Solche Selbstbeurteilung aber ist fallibel: „…; man täuscht sich nirgends leichter, als in dem, was die gute Meinung von sich selbst begünstigt” [AA, VI, S. 68].

Dieses Ergebnis einer auch im Selbstverhältnis moralischer Beurteilung verbleibenden Unsicherheit macht die durch die Schrift tradierten Selbstauskünfte Jesu problematisch, durch die er sich als „einen vom Himmel gesandten” Menschen „kündigte” [AA, VI, S. 128] bzw. sich selbst als Gottes Sohn bezeichnete. Wenn, wie geschehen, Jesus und auch jedem anderen potentiellen Kandidaten für die Verwirklichung der personifizierten Idee des guten Prinzips keine anderen Bedingungen des Mensch-Seins zugestanden werden als allen sonstigen Menschen, dann müssen sie im Selbstverhältnis von der gleichen prinzipiellen Unsicherheit geprägt sein wie diese. Die Selbstauskunft Jesu, Gottes Sohn zu sein, die nach Kantischen Begriffen den Anspruch moralischer Perfektion im Sinne der personifizierten Idee des guten Prinzips beinhaltet, erscheint im Licht der Reflexion über die Grenzen moralischer Selbsterkenntnis als überschwänglich, als über das hinausgehend, was kritische Vorsicht erlaubt.

Wohl weil bei Kant selbst diese kritische Vorsicht letztlich die Oberhand behält, die erst recht in der moralischen Beurteilung an-derer zu walten hat, begründet er die Berechtigung, Jesus als Beispiel für moralische Perfektion zu nehmen, nicht mit einer positiven Erfahrung, wie sie zuvor noch gefordert zu sein schien. Seine Begründung lautet: „Es ist […] der Billigkeit gemäß, das untadelhafte Beispiel eines Lehrers zu dem, was er lehrt, wenn dieses ohnedem für jedermann Pflicht ist, keiner andern als der lautersten Gesinnung desselben anzurechnen, wenn man keine Beweise des Gegenteils hat” [AA, VI, S. 66]. Das Fehlen einer Erfahrung dient hier also zur Begründung. Weil Jesus aufgrund seines Lebenswandels in der Erscheinung nicht getadelt werden kann, weil dieser keinen Anlass bietet, auf eine unlautere Gesinnung zu schließen, hält Kant es also für berechtigt, ihm eine vollkommen lautere Gesinnung zuzuschreiben. Zusätzlich dient als Argument, dass seine Lehren rein moralische Lehren sind, worauf später noch einzugehen sein wird.

Eine so begründete Zuschreibung moralischer Perfektion ist aus dem Gesichtspunkt der von Kant selbst her im Ansatz entwickelten Theorie moralischpraktischer Beurteilung in mehrerlei Hinsicht zu relativieren und wird also kein dezidiertes Urteil von einer solchen Stärke erlauben, dass etwa zu sagen wäre: „Dieser Mensch ist ein Fall der personifizierten Idee des guten Prinzips”. Zunächst ist zu bemerken: Auch wenn Jesus Anlass dazu böte, auf eine unlautere Gesinnung zu schließen, könnte ein solcher Schluss aufgrund der nie auszuschließenden Deutungsambivalenz der äußeren Erscheinung niemals sicher sein und also niemals zum „Beweise des Gegenteils” seiner vollkommen lauteren Gesinnung dienen. Unterstellt nun, es gebe keinen Anlass für einen Schluss auf eine unlautere Gesinnung, ist entsprechend das Fehlen eines solchen Anlasses auch nicht beweiskräftig. Nach Kants eigenem Beispiel von jenem wahrhaftigen Menschen, der um des eigenen Vorteils willen nicht lügt, gibt es offenbar den Fall eines nicht zu beanstandenden Lebenswandels in der Erscheinung, der es doch nicht erlaubt, auf vollkommene Lauterkeit der Gesinnung zu schließen. Würde auf diesen Menschen der obige Maßstab angewandt, wonach dem auf das Schlussfolgern angewiesenen Betrachter erlaubt ist, auf die lauterste Gesinnung zu schließen, bloß wenn kein gegenteiliges Anzeichen gegeben ist, so resultierte ersichtlich eine falsche Zuschreibung moralischer Vollkommenheit. Bei Anwendung des Maßstabs auf alle Menschen wäre es übrigens auch hier „der Billigkeit gemäß”, aus dem Fehlen von Anhaltspunkten für das Gegenteil auf moralische Perfektion zu schließen. Dadurch verlöre der hier akzentuiert thematische Jesus seine Alleinstellung, die zu erhalten zwar nicht im Interesse Kants als dem Sachwalter einer Vernunftreligion liegen muss, mindestens aber im Interesse des Kirchenglaubens, der ihn zu seiner singulären Zentralgestalt erklärt.

Indem Kant es nun doch, wie gesehen, für zulässig hält, Jesus moralische Vollkommenheit zuzuschreiben, kann ein solches Zuschreiben kein striktes Urteilen moralischpraktischer Urteilskraft mit dem Anspruch auf Objektivität sein. Es wird eher als ein Unterstellen anzusehen sein, in dem die bezeichnete urteilstheoretische Unsicherheit durch Wohlwollen ergänzt ist. Darauf weist auch die für das Anrechnen der lautersten Gesinnung beanspruchte „Billigkeit” hin. Im originären rechtstheoretischen Kontext des Terminus „Billigkeit” ist der Anspruch auf Billigkeit ein solcher, den man „nach dem strengen Rechte” auch „abweisen könnte” [AA, VI, S. 235]. Ihn anzuerkennen setzt also eine gewisse Milde, einen Nachlass an Strenge, voraus.

Eine spezielle Art des Zuschreibens ist auch durch den von Kant verwandten Ausdruck des Unterlegens angezeigt. Wir „unterlegen”, wie es heißt, das „Urbild”, d. h. die personifizierte Idee des Guten, das „doch immer in uns (obwohl natürlichen Menschen) selbst gesucht werden muß”, „dieser Erscheinung” [AA, VI, S. 63], d. h. der Erscheinung des Lebenswandels der Person Jesus. Ein solches Unterlegen als Veräußerlichung einer Idee in uns läßt sich auch als Projektion bezeichnen. Die Idee, die wir in uns haben, ist die Idee von etwas schlechthin Innerlichem, nämlich von der vollkommenen moralischen Gesinnung einer Person; obwohl von einem solchen Innerlichen nie eine unmittelbare äußerliche Vorstellung möglich sein wird, veräußerlichen wir sie doch derart, dass wir sie unter einer bestimmten Bedingung einer Erscheinung, dem äußerlich erscheinenden Lebenswandel einer Person, als ihre Innerlichkeit zugestehen. Diese Bedingung ist eine negative, eine conditio sine qua non, keine zureichende Bedingung, nämlich dass dieser Lebenswandel nichts hergibt für die etwaige Unterstellung einer unlauteren Gesinnung. Diese Bedingung, die also die Bedingung für das Zugeständnis einer Projektion ist, sieht Kant offenbar durch den uns durch die biblische Erzählung bekannten Lebenswandel Jesu als erfüllt an. Die Möglichkeit, als Projektionsfläche für die genannte Veräußerlichung einer Vernunftidee zu dienen, muß allerdings, wie schon bemerkt, bei gerecht verteilter „Billigkeit” im Prinzip jedem Menschen zugestanden werden, dessen sichtbarer Lebenswandel keinen Anlass für einen nachteiligen Schluss auf seine unsichtbare Gesinnung bietet. Die urteilstheoretischen Vorbehalte, die die vollgültige Zuschreibung der Eigenschaft der moralischen Perfektion verhindern, bleiben dabei allerdings in jedem Fall bestehen.

Es muss nun noch zur Sprache kommen, dass Kant das Zugeständnis, Jesus die Idee des personifizierten Guten zu unterlegen, nicht bloß mit dessen nicht zu beanstandendem sichtbaren Lebens-wandel begründet, sondern auch mit dessen Lehren [AA, VI, S. 66]. Er hält es für eine „nicht gründlich zu bestreitende Meinung”, dass Jesus als Lehrer im Kern „eine reine aller Welt faßliche (natürliche) […] Religion […] zuerst öffentlich […] vorgetragen habe” [AA, VI, S. 158]. Das ist jene „allgemeine Vernunftreligion” [AA, VI, S. 158], „die allen Menschen durch ihre eigene Vernunft faßlich und überzeugend vorgelegt werden kann” [AA, VI, S. 162]. Damit ist gesagt, dass Jesus als erster die Morallehren der reinen praktischen Vernunft gelehrt habe — verkürzt gesprochen: den kategorischen Imperativ — ergänzt durch den Aspekt, dass im Fall vernunftreligiöser Morallehren dieselbe moralische Gesetzgebung, die schon allein aufgrund der Autonomie der Vernunft in Geltung ist, hinzukommend auch noch als Ausdruck eines göttlichen Gesetzgebers betrachtet ist.

Wenn nun die Frage ist, welche Auszeichnung dadurch eigentlich verliehen ist, wird sich zeigen, dass sie das Problem, ob Jesus als die Konkretion der Idee des personifizierten Guten gelten kann, gar nicht betrifft. Die verliehene Auszeichnung ist die der ohne etwaige neue historische Erkenntnisse nicht zu bestreitenden faktischen Erstmaligkeit der Artikulation einer Lehre, die zu entwickeln prinzipiell inner-halb der Grenzen dessen liegt, was allen Menschen möglich ist. Jeder Vernünftige vor der Zeit Jesu hätte diese reine Morallehre entwickeln können und ebenso jeder Vernünftige danach, und zwar kraft „eigene[r] Vernunft” [AA, VI, 162]. Von denen, die es danach getan haben, darf wohl Kant hervorgehoben werden. Als Lehrer reiner Morallehren mag Jesus zwar ein Ausgezeichneter unter den Menschen sein, doch nicht auf singuläre Art, sondern so, dass diese Auszeichnung von jedem Menschen erzielt werden kann, der ein klares Bewußtsein davon erlangt, wozu seine moralischpraktische Vernunft ihn verpflichtet. Diese Stufe menschlichen Selbstverständnisses kann sogar, wie Kant es auch tut, mit dem Attribut des Göttlichen versehen werden, doch handelt es sich bei dem, was als reine praktische Vernunft in uns allen spricht, ob in Jesus oder in einem anderen, um den „Gott in uns” [AA, VII, S. 48], nicht um einen äußerlichen Gott, ohne dessen Selbstmitteilung mittels Jesus wir etwa über unsere moralischen Verpflichtungen unwissend hätten bleiben müssen.

Es mag nun vorausgesetzt sein, dass Jesus die reinen Morallehren praktischer Vernunft lehrte. Über die Frage, ob er als Erfüllungsfall der Idee des personifizierten guten Prinzips gelten kann, ob ihm als Individuum also moralische Perfektion im strikten Sinne zugeschrieben werden kann, ist dadurch nichts entschieden. Denn diese Frage entscheidet sich nicht auf der Ebene der Lehre, selbst wenn diese die Forderungen praktischer Vernunft völlig zum Ausdruck bringt, sondern nur in der Anwendung, im tätigen Leben also. Hier aber kann der subjektive moralische Status des Lehrers immer hinter seinen objektiven moralischen Lehren zurückbleiben. Auch für den Lehrer objektiver Moral stellt sich das Leben als eine Kette moralisch relevanter Situationen dar, in denen das Rechthandeln nicht schon durch seine Lehre garantiert ist. Er sieht sich wie alle anderen Menschen trotz des nie abwesenden Bewußtseins davon, was nach der Lehre moralisch gefordert ist, von Situation zu Situation vor die freie Entscheidung gestellt, „welche von beiden” Triebfedern, die sittliche oder die sinnliche, „er zur Bedingung der andern macht” [AA, VI, S. 36]. Macht er „die Triebfeder der Selbstliebe […] zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes” [AA, VI, S. 36], so handelt er im Bewußtsein dieses Gesetzes nach Kants einschlägiger Theorie dennoch böse. Im Wissen also um das, was die reine Morallehre verlangt, handelt er gegen diese Lehre. Die als untadelhaft vorausgesetzte Lehre Jesu eignet sich demnach nicht als Argument dafür, ihm den Rang einer Konkretion der Idee des personifizierten Guten zuzuschreiben. Wir sehen uns an dieser Stelle zurückverwiesen auf seinen Lebenswandel in der Erscheinung, der seinerseits als untadelhaft zuzugestehen war, der aber ebenso keinen sicheren Schluss auf das Entscheidende in der Frage des in concreto und in individuo verwirklichten Guten zuließ, nämlich auf die Gesinnung. Diese müsste im in Rede stehenden Fall moralischer Perfektion sogar so beschaffen sein, dass in keiner einzigen der moralisch relevanten Entscheidungssituationen zwischen dem moralischen Gesetz und der Triebfeder der Selbstliebe die Entscheidung zugunsten der letzteren, also zugunsten des Bösen, ausgefallen wäre. Die Gesinnung aber, etwas schlechthin Innerliches, ist weder hinsichtlich einzelner Lebenssituationen noch erst recht hinsichtlich eines gesamten Lebenslaufs einer verlässlichen Beurteilung zugänglich, so dass sich dazu also keine Überzeugung mit hinreichender Gewißheit gewinnen lässt. Es kann also nie letztlich gewiss sein, ob ein bestimmter Mensch ein Fall der Verwirklichung der Idee des personifizierten Guten ist. Diese Idee stellt somit keine Ausnahme unter den Ideen dar, sondern stimmt mit allen anderen Kantischen Ideen darin überein, dass die Existenz ihres Gegenstandes fraglich ist. Als Idee ist sie dadurch nicht diskreditiert, denn sie liegt „in unserer moralisch gesetzgebenden Vernunft” [AA, VI, S. 62], ist also handlungsorientierend bzw. handlungsanweisend. „Wir sollen ihr gemäß sein” [AA, VI, S. 62], sagt Kant. Indem wir das sollen und indem uns durch diese Idee ein Ziel gesteckt ist, ohne dass wir auch nur von einem einzigen Verwirklichungsfall überzeugt sein können, gehört sie zu den regulativen praktischen Ideen. Indem sie ein Sollen enthält, ist sogar zu sa-gen: Wir „müssen” ihr gemäß sein „können” [AA, VI, S. 62]. Diese Einsicht in die notwendige Möglichkeit der Verwirklichung ergibt sich aber rein analytisch aus dem Begriff des Sollens, d.h., aus einer bloßen gedanklichen Operation, die etwa so formuliert werden kann: Das Sollen ist gewiß; allein daraus folgt die Möglichkeit der Verwirklichung, denn ein unmögliches Können höbe das Sollen auf. Die Ein-sicht, dass es den Fall der Verwirklichung der personifizierten Idee des Guten geben können muss, ist also nicht davon abhängig, dass es jemals einen solchen Fall gegeben hat und dass er als ein solcher erkannt wurde. Das Erkennen von Fällen der Verwirklichung musste hier sogar ganz ausgeschlossen werden, allerdings ohne Schaden für die „rein analytisch” genannte Einsicht, dass es solche Fälle geben können muss. Ob Jesus — um zur Ausgangsfrage zurückzukehren — ein solcher Fall gewesen ist, kann also niemand sagen. Für Vernunftreligion hängt allerdings nichts davon ab.

 

Die erste Veröffentlichung des Aufsatzes:

 

Dörflinger, Bernd. Kants Jesus// 10. Internationale Kant Konferenz. Klassische Vernunft und die Herausforderungen der modernen Zivilisation: Materialien der internationalen Konferenz: in 2 Bd. Hrsg. W.N. Brjuschinkin. – Kaliningrad: Verlag der Immanuel Kant Universität Kaliningrad, 2010. Band. 1, S. 34 – 45.