Professor Mario Caimi: „Vierzig Jahre meines Lebens habe ich der Kant-Forschung gewidmet“

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– Sie sind in Kaliningrad angekommen, um sich in den Geist des Ortes einzufühlen, in dem Kant gelebt und gearbeitet hat. Beschreiben Sie bitte Ihren Weg zur Philosophie.

– Ein Freund von mir sagte mir einmal: Du bist für keinen Beruf geeignet, außer für die Philosophie. Es haben mich also mein Wesen oder meine Veranlagung dazu geführt. Das war wie ein unvermeidlicher Weg und keine richtige Entscheidung. Ich würde sagen, ich bin kein richtiger Philosoph wie andere Professoren, die ich kenne. Weil die anderen sehr rigoros und wissenschaftlich arbeiten, sie lesen alle sämtliche Aufsätze usw. Und ich habe eher eine künstlerische Auffassung der Philosophie, ich genieße die Schönheit des Denkgebäudes, das ist mir lieber. Natürlich bin ich auch in der akademischen Forschung tätig, aber ich sehe das nur als die technische Seite meiner Arbeit. Das Wichtigste für mich ist die Konstruktion des Geistes, die da so schön steht.

Hier in Kaliningrad, am Kant-Denkmal stehend, habe ich gedacht: man kann über Kants Philosophie vieles sagen und viel diskutieren, aber hier in Königsberg hat Kant die Welt neu, auf eine neue Weise begründet und ich bewundere das im Herzen. Das ist wunderbar – egal, was die Forscher sagen, hier habe er sich widersprochen, das sei nicht gut begründet usw.

– Beschreiben Sie bitte die Etappen Ihrer Bildung.

–  Als ich recht jung war, noch nicht 17, hatte ich in den letzten Schuljahren in Buenos Aires einen sehr guten Lehrer. Er lehrte Psychologie, aber er war ein  hochgebildeter Mann und hat uns auch Philosophie beigebracht. Er erklärte uns auch einiges von Kant. Und da fingen meine Mitschüler an, mich „Kant“ zu nennen. Als Spitzname. Und das war ein Zeichen des Schicksals, nicht wahr?

An der Universität von Buenos Aires habe ich angefangen, Kunstgeschichte zu studieren. Nach ein paar Jahren des Studiums war ich unzufrieden, weil ich dachte: „Du studierst die Kunstgeschichte und bist nicht in der Lage, ein Bleistift in die Hand zu nehmen oder Musik zu spielen“. Ich habe mich nach anderen Möglichkeiten umgesehen, und da war die akademische Philosophie… der Studienplan war damals in Buenos Aires sehr streng: man musste zuerst Logik studieren, dann Geschichte der alten Philosophie, dann Geschichte der mittelalterlichen Philosophie usw.

Nach dem Ende des Studiums, als ich schon heiraten wollte, wurde mir klar: ich habe keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Kein Arbeitgeber sucht nach einem Philosophen. Später habe ich einen deutschen Professor gefragt: „Was machen diplomierte Philosophen in Deutschland?“ Die Antwort war: „Sie sind Taxi-Fahrer“. Daraufhin war ich sehr traurig. Ich dachte, mein Leben ist vertan und ich muss lebenslang in der Position eines unqualifizierten Arbeiters bleiben, ohne die Chance zu haben, mich persönlich weiterzuentwickeln.

Und da bekam ich von DAAD ein Promotionsstipendium. Mit meiner Frau und mit unserer acht Monate alten Tochter kam ich nach Mainz. Das Stipendium war ursprünglich auf ein Jahr befristet, es wurde aber verlängert und ich bin fast sechs Jahre in Deutschland geblieben. Mein argentinisches Diplom wurde dort nicht anerkannt und ich musste nochmal Philosophie studieren. Die Nebenfächer waren Romanistik, vor allem spanische Literatur, und Pädagogik. Ich wurde von Gerhard Funke betreut, der damals Präsident der Kant-Gesellschaft war. Schließlich wurde ich in Deutschland promoviert, Gerhard Funke und Rudolf Malter waren die Opponenten bei der Verteidigung.

Die Muttersprache meiner Tochter ist Deutsch, mein Sohn wurde in Mainz geboren; dieser Schritt hat mein Leben also schon sehr stark beeinflusst.

– Würden Sie jetzt sagen, die Philosophie habe Ihnen im Leben geholfen?

– Ja, in vielerlei Hinsicht. Zunächst brachte mir das Studium großen geistigen Reichtum. Ich hätte nie allein solche Gedanken fassen können. Aber nachdem ich Vorlesungen über Kant, Descartes und Spinoza gehalten habe, kann ich die von ihnen verwendeten Begriffe auch als meine betrachten.

– Wie war Ihr Eindruck, als Sie zum ersten Mal einen Text von Kant gelesen haben?

– Ich habe angefangen Kant zu lesen als ich noch kein Deutsch konnte, also in der Übersetzung. Und die Übersetzung war recht schlecht, miserabel, und da habe ich wenig verstanden. Mein Professor empfahl mir zugleich als Begleitung, als Kompendium, das zweibändige Buch von Herbert Paton „Kants Metaphysics of Experience“. Und da war ich wirklich begeistert. Ich dachte: „Alles wird klar…Aber wie kann dieser Mann alles so deutlich verstehen? Bin ich nicht klug genug?“ Als ich nach Deutschland gekommen bin, habe ich das Geheimnis von Paton entdeckt: Jedes Problem in der „Kritik der reinen Vernunft“ ist mehrmals von vielen Gelehrten entwickelt und erforscht worden. Zu jedem Satz gibt es möglicherweise einen Aufsatz. Und Paton hat sie überarbeitet, es war nicht nur seine bloße Intelligenz. Damals waren unsere argentinischen Bibliotheken nicht so gut wie heute und ich konnte darüber am Anfang noch nichts wissen. In Mainz fing ich an, Kant auf Deutsch zu lesen. Das ist natürlich sehr wichtig. Später habe ich dann die „Kritik der reinen Vernunft“ ins Spanische übersetzt sowie die „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“, die „Prolegomena“ und einige andere kleinere Schriften – das hat mich viel Mühe gekostet.

– Wie haben Sie sich auf das Problem vom Schematismus bei Kant konzentriert?

– Das ist eine ganze Geschichte. In Buenos Aires habe ich einen Kreis zur Lektüre der „Kritik der reinen Vernunft“ gegründet. Als wir an die Deduktion (B) gekommen sind, hielt ich ein Seminar ab, sogar zweimal. Und es ist mir gut gelungen und wurde von vielen Studenten besucht. Die Ergebnisse meiner Forschung habe ich ins Deutsche übersetzt und wurde daraufhin in Deutschland eingeladen, ein Seminar zu halten, und ich habe mich für das Thema „Deduktion (B)“ entschieden. Danach wurde ich in Sorbonne eingeladen und dieses Material wurde ins Französische übersetzt. Daraus entstand ein Buch zu diesem Thema, das in Paris auf Französisch veröffentlicht wurde. Dann wollten wir weitermachen und uns nicht mit diesem Thema einschränken, wodurch wir auf den Schematismus stießen. Und das war sehr kompliziert, ganz schwierig. Da habe ich angefangen, Vorlesungen und Seminare zum Schematismus zu halten. Ich habe eine Menge Bibliographien gelesen und nach und nach fing ich an, zu verstehen.

– Sie haben sich viel mit Kants Erkenntnistheorie beschäftigt – was bedeutet es für die moderne Wissenschaft? Gibt es einige Berührungspunkte?

– Das ist eine hochinteressante Frage. Kant lehrt uns zwei Sachen: Erstens, dass für die Wissenschaft nur der Bereich der Natur zugänglich ist. Theologie ist darüber hinaus, z.B. keine Wissenschaft, nur eine Konstruktion von Gedanken. Und zweitens, was nur selten beachtet wird: Es gibt außerhalb des Objekts der Wissenschaft ein großes und breites Feld, das wir nicht erkennen können. Und wir müssen unsere Unwissenheit annehmen und dürfen sie nicht negieren. Die Wissenschaft darf meiner Meinung nach nicht das letzte Wort in diesem Bereich beanspruchen. Dem Sinn des Ganzen entgeht die Wissenschaft. Das allerletzte Wort gehört der Moral.

– Was haben Sie von Kaliningrad erwartet, und inwiefern wurden diese Erwartungen erfüllt?

– Es war schon lange meine Absicht, einmal im Leben Kants Land kennenzulernen, sein Grabmal zu besuchen, Kants Denkmal zu besichtigen. Ich wollte das Licht fühlen, das Kant zu seiner Zeit erlebte. Ich wollte selbst diesen „gestirnten Himmel über mir“ anschauen. Ich wusste, dass nicht viel aus seiner Zeit geblieben ist. Aber das Licht ist doch geblieben. Die Stadt ist viel schöner, als ich erwartet habe. Und zwei Sachen haben mich erstaunt: Erstens, das Universitätsgebäude: schön, hell, sauber… großartig. Hier hätte ich gerne gearbeitet. Und zweitens, die Kaliningrader Parkanlagen. Große dunkle Bäume, die Ruhe, das schöne Abendlicht – das ist wirklich schön und entspannend.

– Darf ich schließlich eine Blitz-Umfrage machen? Glauben Sie an Gott?

– Ich glaube nicht an einen Gott im Sinne von Religion. Aber ein Prinzip, das unser aller Verständnis übersteigt – das ist vermutlich anzunehmen.

– Dient die heutige Mathematik als Fundament aller empirischen Wissenschaften?

– Empirischen – ja, nicht aber der Moralischen. Das sagte schon Pasсal. Er hat den Geist der Geometrie von dem Geist der Subtilität unterschieden. Einige Dinge sind mit der Geometrie sehr gut zu erklären, aber es gibt auch andere, die sie nicht zu erklären vermag. Und das sind unter anderem auch tatsächliche menschliche Handlungen und Gefühle. Wie die von Pasсal erwähnte Angst vor der ewigen Stille der unendlichen Räume – das Bewusstsein der eigenen Kleinheit.

– Was bedeutet für Sie das Wort „Liebe“?

– Meine Frau und meine Kinder (lachend). In den letzten Jahren, als ich alt geworden bin, denke ich mehr und mehr, die Liebe sei für alles der Grund. Man kann ohne Liebe kaum etwas machen. Wenn wir theoretische Philosophie studieren – was würden wir machen, wenn wir ohne eine Art Liebe für diese Probleme arbeiteten? Es wäre eine bürokratische Arbeit ohne Sinn.

– Welche Ratschläge möchten Sie denjenigen geben, die erst anfangen Philosophie zu studieren?

– Lesen Sie die großen schönen Bücher der Klassiker. Bevor Sie irgendeine allgemeine Darstellung oder einen sekundären Aufsatz lesen, lassen Sie sie beiseite, und lesen Sie mit Demut, mit Liebe ein Werk von Kant oder Descartes oder Spinoza oder Platon. Natürlich werden Sie nichts verstehen, das ist nicht leicht. Aber lassen Sie sich etwas beeindrucken. Wenden Sie sich an die Kommentare, nur um Hilfe zu suchen und nicht den eigentlichen Geist der Philosophie.

Interviewer – Dr. Alexey Trotsak

 

Zur Person:

Mario Caimi, Professor für Geschichte der modernen Philosophie, Fakultät der Künste, Universität Buenos Aires. Forschungsgebiet: Theoretische Philosophie von Immanuel Kant. Interessen: transzendentale Deduktion (B) und Problem der Schematismus bei Kant. Ausbildung: Universität Buenos Aires (1974), Promotion in Mainz (1982, DAAD-Stipendiat seit 1976). Seit 1982 – wissenschaftliche Mitarbeiter des Nationalen Forschungsrat für Wissenschaft und Technologie.

1992 – Gastprofessor an der Universidad Simón Bolívar (Caracas, Venezuela), 1996 und 1997 – Gastprofessor an der föderalen Universität Rio Grande do Sul (Porto Alegre, Brasilien), 1997 – Professor an der Universität Campinas (São Paulo, Brasilien), 2000 – Gastprofessor an der Universität Eichstätt (Deutschland), 2004 – Gastprofessor an der Universität Sorbonne. Mitglied des Redaktionsrates der Zeitschrift „Kant-Studien“. 2010 wurde an Mario Caimi der internationale Kant-Preis verleiht, für seine Arbeit an der Kants theoretische Philosophie und für die Popularisierung des Kants Werks in spanischsprachigen Länder.