Kants Weltbegriff der Philosophie

 

 

 

 

 

 

 

Jürgen Stolzenberg

Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Kants Weltbegriff der Philosophie

Öffentliche Vorlesung 22 April 2017 im Dom zu Kaliningrad im Rahmen der Kant-Vorlesungen der Academia Kantiana der Baltischen Föderalen Immanuel-Kant-Universität

Spätestens mit dem Kant-Jahr 2004 und den Feierlichkeiten, die weltweit zum Gedenken an Kants 200. Todestag veranstaltet wurden, ist deutlich geworden, dass Kant zum Philosophen der Welt geworden ist. Nicht Hegel, nicht Nietzsche, nicht Wittgenstein und nicht Heidegger – Immanuel Kant ist zu einer intellektuellen Instanz geworden, von der man sich Orientierung in grundlegenden Fragen des menschlichen Lebens erhofft. Und in der Tat, in einer Zeit und in einer Welt, in der das öffentliche Leben zunehmend von religiösem Fanatismus und Terror bedroht ist, in der Millionen Menschen unter politischer Verfolgung, Hunger und Krieg leiden, einer Welt, in der neue, unheilvolle Konfrontationen zwischen den Staaten drohen, in einer solchen Welt und in einer solchen Zeit ist Kants Kosmopolitismus der Vernunft ein Einspruch gegen Irrationalismus, Isolationismus und Aggression.

I.

Es ist daher auch nicht zufällig, dass der Begriff der Welt in Kants Philosophie eine zentrale Rolle spielt. Am Ende seiner Kritik der reinen Vernunft hat Kant in einer besonders prominenten Weise von dem „Weltbegriff der Philosophie“ gesprochen. Er umfasst das, „was notwendig jedermann interessiert“ (KrV, B 868). Was ist damit gemeint?

In Kants Begriff der Welt sind mehrere Aspekte enthalten. Darüber muss man sich verständigen, wenn man wissen will, warum und in welcher Weise Philosophie jeden angeht. Der Begriff der Welt bezieht sich zum einen auf den kosmopolitischen Bereich. Es ist der Bereich, in der der Mensch als Weltbürger lebt, und Weltbürger ist er von Natur aus, insofern er ein Teil der Gattung Mensch ist. Diese kosmopolitische Dimension meint Kants Erklärung, dass der Mensch „durch seine Vernunft bestimmt [ist], in einer Gesellschaft und mit Menschen zu sein“ (AA 7, 324). Damit verbunden ist Kants innovative Auffassung von einem Weltbürgerrecht. Es sieht vor, dass Menschen von Natur aus, und nicht erst aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einem Staat, individuelle Rechte genießen. So umfasst das Weltbürgerrecht ein Besuchsrecht, demzufolge Fremde nicht von vorneherein feindlich behandelt werden dürfen.

Der Begriff Welt bezieht sich zweitens auf eine moralische Welt. Es ist dies Kants Vision von einer Einrichtung der Welt nach Gesetzen der Freiheit, d.h. einer moralischen und gerechten Welt. Die Einrichtung einer solchen Welt ist ein moralisches Interesse des Menschen, sofern er sich und seinesgleichen als freie, autonome Wesen versteht, denen eine „unverlierbare Würde“ (AA 6, 436) zukommt. Das schließt die Institutionalisierung wechselseitiger Anerkennungsverhältnisse ein, unter denen die Menschen einander nicht als Mittel zu ihren Zwecken, sondern als „Zweck[e] an sich selbst“ (AA 4, 428) betrachten und behandeln, das heißt: einander achten. Das meint Kant, wenn er von einer moralischen Kultur spricht.

Hierbei vertritt Kant die These, dass der Mensch aufgrund seiner Vernunft, die ihn mit allen anderen Menschen verbindet, dazu aufgerufen ist, die Welt, in der er lebt und damit auch sich selbst, „durch Kunst und Wissenschaft zu kultivieren, zu zivilisieren und zu moralisieren“ (AA 7, 324). Das ist heute mit dem aus der Aufklärung überkommenden Schlagwort einer ‚Humanisierung der Menschheit‘ gemeint, die im Zeitalter eines weltweiten Ökonomismus aus dem Blick zu geraten droht. Auch der moderne Begriff des Weltkulturerbes hat hier seinen philosophischen Ort. Er bezieht sich auf von Menschen in einer Zivilisation geschaffene Kulturgüter, denen für das kulturelle Niveau der gesamten Menschheit eine exemplarische Bedeutung zukommt, und die es deswegen zu erhalten und zu schützen gilt.

Wenn Kant nun von einem Weltbegriff der Philosophie spricht, dann ist die Architektur des Lehrgebäudes gemeint, das die Philosophie errichtet. Philosophie entwickelt eine systematisch geordnete Darstellung des Gesamtzusammenhangs der Prinzipien menschlichen Wissens und Handelns. Der Zusammenhang, und das heißt, die Einheit des Lehrgebäudes der Philosophie ist jedoch kein aus Teilen äußerlich zusammengesetztes Aggregat, sondern ein System, dessen Teile durch ein gemeinsames Prinzip bestimmt sind, aus dem die Teile ihre Stelle im gesamten System und zugleich ihre je eigene Rechtfertigung beziehen. Da ein solches Prinzip die Existenz der Teile und ihren Zusammenhang begründet, kann es als Inbegriff ihrer zweckmäßigen Ordnung verstanden werden. Insofern stellt dieses Prinzip ein letzten oder, wie Kant sich ausdrückt, einen Endzweck dar. Der Gesamtzusammenhang der Prinzipien menschlichen Wissens und Handelns wird somit durch den Bezug aller Prinzipien auf einen letzten bzw. einen „Endzweck“ gestiftet (KrV, B 868). Der Endzweck, das ist entscheidend, betrifft das, was Kant, mit der berühmten, von dem Theologen Johann Joachim Spalding geprägten Formel der Aufklärung „die ganze Bestimmung des Menschen“ (KrV, B 868)[1] nennt. Die Bestimmung des Menschen besteht in der Aufgabe, auf dem Wege seiner Kultivierung – „durch Fortschreiten in einer Reihe unabsehlich vieler Generationen“, wie Kant sagt –, schließlich zu einer weltweiten Gemeinschaft zu gelangen, in der alle Menschen, „kosmopolitisch verbunden“ (AA 7, 333) sind und einander als moralische Wesen achten und auf diese Weise auch zur Sicherung  ihres physischen Wohlergehens beitragen. Das soll in der Gründung einer Staatengemeinschaft geschehen, die die Organisationsform eines föderativen Staatenbundes haben soll. Darin sah Kant zugleich die einzig mögliche Garantie eines auf Dauer angelegten Weltfriedens. Sofern die Philosophie darüber Auskunft gibt, worin die ganze Bestimmung des Menschen besteht und das heißt, welches der letzte bzw. Endzweck besteht, den der Mensch in seinem personalen und sozialen Leben verfolgen soll, betrifft die Philosophie das, „was jedermann notwendig interessiert“.

Damit ist die Bedeutung von Kants Weltbegriff der Philosophie aber noch nicht erschöpft. Es ist wichtig zu sehen, dass der so bestimmte Endzweck seinerseits unter einer Bedingung steht, unter der er nur realisiert werden kann. Diese Bedingung ist, das mag zunächst überraschen, durch die Realität zweier kosmologischer Ideen, nämlich der Idee Gottes und der Idee der Unsterblichkeit der menschlichen Seele gegeben. Es sind daher in Wahrheit zwei Fragen, deren Beantwortung in Kants Sicht den letzten und höchsten Zweck der menschlichen Vernunft ausmacht. Die eine Frage lautet: „Ist ein Gott?“, die andere lautet: „Ist ein künftiges Leben?“ (KrV, B 831). Auf diese Fragen eine Antwort zu finden, das ist eigentlich das, was jedermann notwendig interessiert. Darauf komme ich zurück.

II.

Das weltweite und anhaltende Interesse an der Kantischen Philosophie ist mit dem bisher Gesagten noch nicht hinreichend verständlich gemacht. Es ist noch ein weiterer, entscheidender Zug zu nennen. Ich möchte ihn den humanen Charakter der Philosophie Kants nennen. Kants Interesse als Philosoph gilt der conditio humana. „Die Rechte der Menschheit herzustellen“,[2] das erschien schon dem jungen, Rousseau-begeisterten Kant als die höchste Aufgabe der Philosophie. An dieser Überzeugung hat Kant Zeit seines Lebens festgehalten, von ihr ist seine gesamte praktische Philosophie getragen. So geht Kants Ethik denn auch von der konkreten, individuellen menschlichen Existenz aus. Sie berücksichtigt die Bedeutung, die unseren primären natürlichen Neigungen, unseren vitalen Bedürfnissen und unseren Wünschen für das Leben, das wir jeweils zu führen haben, zukommt und mit denen unsere individuellen Vorstellungen von Glück verbunden sind. Zugleich geht sie davon aus, dass wir auch über eine moralische Kompetenz verfügen, und das ist die Fähigkeit, von der je individuellen Perspektive abzusehen und die Perspektive der Moralität einzunehmen. Das ist eine Perspektive, unter der wir in der Lage sind, uns von der Verfolgung unseren primären Neigungen und Wünsche zu distanzieren und unsere langfristigen Absichten und Handlungen an streng allgemeinen, das heißt, von jedem in einer vergleichbaren Situation akzeptablen Normen auszurichten. Das tun wir, ob bewusst oder unbewusst, immer dann, wenn wir sagen bzw. davon überzeugt sind, dass etwas zu tun (oder zu unterlassen) schlechthin gut oder schlecht ist. Das geschieht im alltäglichen Leben oft genug, mag es sich um die Beurteilung  von moralisch relevanten Konfliktsituationen oder ganzen Lebensentwürfen handeln.

In diesem Standpunkt der Moralität, der jedem zugänglich und jedem bekannt ist, das ist die entscheidende Einsicht Kants, drückt sich das Bewusstsein der Freiheit aus, von dem Kant daher auch mit Recht sagt, dass es „mit der gröbsten und leserlichsten Schrift in der Seele des Menschen geschrieben ist“ (AA 8, 287). Kants Ethik der Freiheit vereinigt beide Perspektiven. Eben damit trägt sie der conditio humana Rechnung: Sie berücksichtigt die von Natur aus gegebene Bedürftigkeit des konkreten Menschen und sein Streben nach einem umfassenden Wohlergehen, das Kant Glückseligkeit nennt; dieses Streben sucht sie mit den Forderungen einer universalen, d.h. für alle Menschen akzeptablen Moralität in Übereinstimmung zu bringen. Kants Ethik unterdrückt das menschliche Streben nach Wohlergehen und Glück daher keineswegs, wie immer wieder unter dem Vorwurf des Formalismus und Rigorismus behauptet wird, vielmehr sucht sie ihm eine ethische Anerkennung und Rechtfertigung zu verschaffen. Das ist der humane Gehalt der Ethik Kants.

III.

Ein nahezu ununterbrochenes, in den letzten Jahrzehnten zunehmendes Interesse haben auch Kants Rechts- und Staatsphilosophie, insbesondere seine Überlegungen zu einer Politik des Friedens gefunden. Und auch hier ist es ein zutiefst humanes Interesse, das Kants Überlegungen leitet. Denn nur dann, wenn die Rechte aller Menschen – die „Rechte der Menschheit“, um an den Ausdruck des frühen Kant zu erinnern –, dauerhaft gesichert sind, kann der ethische Anspruch realisiert werden, einander nicht als Mittel, sondern als Zweck an sich zu behandeln. Ein solcher idealer Zustand ist nur denkbar im Zustand eines seinerseits idealen ewigen Friedens unter republikanisch verfassten Staaten, d.h. Staaten, deren wichtigste Kriterien ein repräsentatives System und strikte Gewaltenteilung ist. Die Sicherung der Rechte aller Menschen sieht Kant daher, wie erwähnt, durch einen Staaten- oder Völkerbund gewährleistet. In der Idee eines solchen Völkerbundes besteht Kants innovative Leistung: Es ist die Idee einer Föderation freier und souveräner, republikanisch verfasster Staaten, die nach dem Modell eines permanent tagenden Staatenkongresses organisiert sein sollen, und dessen Organe dazu beitragen sollen, dass die Staaten, wie Kant schreibt, „ihre Streitigkeiten auf civile Art, gleichsam durch einen Proceß, nicht auf barbarische Art (nach Art der Wilden), nämlich durch Krieg“ (AA 6:351) entscheiden. Der historische Völkerbund und dessen faktische Nachfolgeorganisation, die im Jahre 1945 gegründeten Vereinten Nationen, deren oberste Ziele, wie es in der Charta der Vereinten Nationen heißt, die Wahrung des Weltfriedens, die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Nationen, die Lösung globaler Probleme und die Förderung der Menschenrechte sind, können als Versuche angesehen werden, Kants Idee einer völkerrechtlichen Sicherung des Weltfriedens eine internationale institutionelle Grundlage zu verschaffen.

Fragt man, wie weit dieser Versuch politisch gelungen ist, dann fällt die Bilanz durchaus ambivalent aus. Zwar haben die Vereinten Nationen in den letzten Jahrzehnten in mehreren Ländern und Regionen zur Friedenssicherung beitragen können, und auch im Bereich der humanitären Hilfeleistungen wie dem Welternährungsprogramm sind Erfolge zu verzeichnen. Die Vereinten Nationen haben bewaffnete Konflikte aber nicht verhindern können. Ihre Resolutionen wurden und werden missachtet. Verletzungen des Völkerrechts sehen die Vereinten Nationen ihrerseits oft tatenlos zu. Und sie konnten und können das Hoch- und Wettrüsten nicht verhindern. Es ist klar, dass auf diesem Wege der globale Friede nicht zu erreichen ist. Kants Postulat im 3. Präliminarartikel seiner Schrift Zum ewigen Frieden: „Stehende Heere sollen mit der Zeit ganz aufhören“ (AA 8, 345), wartet, wie vieles andere, das Kant als Bedingungen für die Sicherung eines Weltfriedens fordert, noch auf seine Realisierung – hier mag nur das Verbot militärischer Intervention oder die „Anstellung [von] Meuchelmörder[n]“ (AA 8, 346) genannt werden.

IV.

Es ist hier nicht der Ort, in eine detailliertere Analyse von Kants Überlegungen zur internationalen Friedenssicherung einzutreten. Ein Punkt verdient jedoch hervorgehoben zu werden. Er betrifft Kants oft missverstandenes Argument für die Einrichtung eines friedensichernden Völkerbundes. Ein solcher Völkerbund ist wesentlich dadurch charakterisiert, dass in ihm keine Zwangsgesetze vorgesehen sind. An diesem Argument lässt sich in besonderer Weise Kants weitsichtiger Realismus in politischen Dingen studieren. Und daraus lässt sich auch eine realistische Einschätzung der gegenwärtigen Weltlage mit Blick auf die Möglichkeit und Sicherung eines globalen Friedens gewinnen.

Es sind vor allem zwei Überlegungen, die von Bedeutung sind. Kants erste Überlegung besagt das Folgende: Für Staaten, die aus einem permanenten Kriegszustand bzw. einem Zustand, in dem immer wieder neue Kriege auszubrechen drohen, herauszukommen bestrebt sind, ist es ein Gebot der praktischen Vernunft, einen föderativen Völkerstaat zu bilden, der öffentliche Zwangsgesetze enthält, die bei Verstößen gegen das Völkerrecht angewendet werden. Die zweite Überlegung scheint dem auf eine zunächst unverständliche Weise entgegen zu treten. Sie besagt, dass die Staaten dies aufgrund „ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht wollen“ (AA 8, 357). Eine Begründung gibt Kant nicht. Sie ist indessen leicht nachzureichen. Die Begründung lautet, dass souveräne Staaten deswegen nicht wollen, sich Zwangsgesetzen zu unterwerfen, weil sie sich bereits in einem Rechtszustand befinden. Die Unterwerfung unter Zwangsgesetze würde bedeuten, dass sie auf ihre politische Autonomie und Souveränität verzichten müssten, was sie von sich aus gar nicht wollen können. Deshalb kann es auch kein Recht geben, Staaten zum Eintritt in einen solchen Völkerstaat gesetzlich zu zwingen.

Zudem würde ein Staatenstaat, wie man einen Völkerstaat mit Zwangsgesetzen nennen müsste, einer Voraussetzung des Völkerrechts widersprechen. Ein solcher Staatenstaat wäre ein einziger Staat, damit würde aber die Voraussetzung des Völkerrechts, dass es mehrere Staaten gebe, aufgehoben. Darüber hinaus wäre er so etwas wie eine Universalmonarchie, mit der die Gefahr einer globalen Diktatur verbunden ist. Deshalb setzt Kant seine ganze Hoffnung auf die Bildung eines föderativen Völkerbundes, der nicht über Zwangsgesetze verfügt, der aber alles daran setzen soll, den Frieden zu stabilisieren und der Neigung zu kriegerischen Auseinandersetzungen entgegen zu wirken, ohne doch die „beständige Gefahr ihres Ausbruchs“ (AA 8, 357) verhindern zu können.

Doch ist das nicht Kants letztes Wort geblieben. Kant vertraut auf eine stetige und sich immer weiter ausbreitende Entwicklung der moralischen und politischen Kultur. Sie soll zu einer immer größeren Übereinstimmung in  grundlegenden moralischen und rechtlich-politischen Prinzipien führen – nichts anderes meint die eingangs erwähnte „Humanisierung der Menschheit“. Zu diesen Prinzipien sind unter anderem die Menschenrechte, der Republikanismus sowie das erwähnte Weltbürgerrecht zu zählen. Ein solcher Konsens, das ist Kants Hoffnung, wird die Erreichung eines transnationalen Einverständnisses darüber erleichtern, dass es keine Alternative zu einem freiwillig einzurichtenden globalen Völkerstaat gibt, der, in Form eines „minimalen sekundären Weltstaates“[3], denn doch eine auf gewissen Zwangsgesetzen gegründete Organisation ist.

Dass dies ein Prozess ist, dessen Dauer gar nicht abzusehen ist, und für dessen erfolgreichen Verlauf es neben der grundsätzlichen Bereitschaft, Konflikte mit friedlichen Mitteln auszutragen, politischer Klugheit, Erfahrung und praktischer Urteilskraft bedarf, war Kant bewusst. Kant wusste auch, dass es nicht die Philosophen sind, die das Schicksal der Völker bestimmen, und dass dies auch gar nicht wünschenswert ist, denn der Besitz von Gewalt birgt die Gefahr der Korrumpierung eines unparteiischen und freien Urteils in sich. Für die Kultur eines aufgeklärten Volkes hielt Kant es aber für unverzichtbar, „dass Könige oder königliche (sich selbst nach Gleichheitsgesetzen beherrschende) Völker die Klasse der Philosophen nicht schwinden oder verstummen, sondern öffentlich sprechen lassen, […] weil diese Klasse ihrer Natur nach der Rottierung und Klubbenverbündung unfähig ist“ (AA 8, 396). An der gegenwärtigen weltpolitischen Lage und dem Verhältnis der Staaten zueinander auf der einen Seite, der Existenz der Vereinten Nationen mit ihren zentralen Organen, wie der Generalversammlung, des über eine Durchsetzungsmacht verfügenden Sicherheitsrates, einem Internationalen Seegerichtshof und einem Internationalen Gerichtshofs, die allerdings ohne Durchsetzungsrechte sind, und der Welthandelsorganisation auf der anderen Seite, sowie der Rolle, die die Philosophie – sollte ich lieber sagen: Kants Philosophie? – in der intellektuellen Kultur der Staaten der Welt spielt, lässt sich der Stand des von Kant inaugurierten Prozesses hin zu dem Ideal eines ewigen Friedens ablesen. Dass sich auch hier ein höchst ambivalentes, wenn nicht gar deprimierendes Bild ergibt, ist offenkundig. Da aber der Friede, wie Kant mit Recht sagt, „das höchste politische Gut“ (AA 6, 355) ist, und da wir nicht wissen können, dass er unerreichbar ist, sind wir aus Vernunftgründen verpflichtet, alles daran zu setzen, dass er erreichbar wird.

V.

Kant hat einen dauerhaften Frieden als das „höchste Weltbürgerliche Gut“ (Refl. 8077, AA 19, 612) bezeichnet. Das führt zurück zu der eingangs berührten Frage, worin der letzte Zweck besteht, auf den die Philosophie nach dem Weltbegriff ausgerichtet ist, und welche Bedeutung hierbei der Frage „Ist ein Gott?“ zukommt. Das höchste weltbürgerliche Gut, das mit einem dauerhaften Frieden gegeben ist, besteht genauer in der Verbindung von moralischen Rechtsverhältnissen und dem Beitrag zum Wohlergehen und Glück der Menschen, die sich als Weltbürger verstehen. Auf diese Weise wird die Idee von einem höchsten moralischen Gut – das ist die harmonische Verbindung eines moralisch verantwortbaren Lebensentwurfs mit dem Streben nach Glück – von dem ursprünglich personalen Lebenszusammenhang auf die weltpolitische Ebene ausgedehnt. Was für das personale Leben gilt, muss auch für das Leben aller Bürger im weltpolitischen Maßstab, d.h. für alle Weltbürger, gelten.

An dieser Stelle hat Kants Frage „Ist ein Gott?“ ihren Ort. Kants auf den ersten Blick provokante These ist es nämlich, dass die Idee Gottes eine notwendige, von der menschlichen Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch selber gemachte bzw. zu machende Voraussetzung ist, aus der die Möglichkeit eines Lebensentwurfs begriffen werden kann, der sich von der Idee leiten lässt, dass das Streben nach Moralität mit dem Aussein auf Glück harmonisch übereinstimmen möge.

Kants Argument für diese These ist alles andere als abwegig. Kant geht von der Einsicht aus, dass es gar keinen theoretischen Grund gibt, aus dem die Möglichkeit einer Übereinstimmung von Moralität und Glückseligkeit begriffen werden könnte. Denn weder kann der moralisch Handelnde, und auch nicht der politisch Handelnde, den Weltlauf und die Naturgesetze seinem Willen unterwerfen, noch richtet sich die Natur von sich aus nach moralischen bzw. rechtsmoralischen Gesetzen. Gleichwohl geht die Idee der Beförderung einer moralischen Welt – im personalen wie im weltpolitischen Sinn – von der Voraussetzung aus, dass eine solche Übereinstimmung von Naturgesetzen mit den Gesetzen der Moralität möglich sei, denn auf eine solche Übereinstimmung ist ihre Forderung gerichtet, darin liegt der Sinn ihrer praktischen Intentionen, ob sie sich darüber im Klaren ist oder nicht.

Der entscheidende Schritt liegt in dem von Kant gezogenen Schluss, dass mit der Forderung einer solchen Übereinstimmung das Postulat einer externen Ursache verbunden sein muss, die eine Natur hervorzubringen imstande ist, die den theoretisch nicht beizubringenden Grund für diese Übereinstimmung enthält. Eine solche externe Ursache muss auch in der Lage sein, nach moralischen Gesetzen zu wirken, denn sie soll ja die Ursache der Übereinstimmung von Naturordnung und einer moralisch-rechtlichen Weltordnung sein. Deswegen muss sie Verstand und Willen haben – und genau das meint der Begriff von Gott. Das also ist der entscheidende Punkt: Um die Möglichkeit einer Konvergenz von Moralität und Wohlergehen begreiflich zu machen, einer Konvergenz, für die unter den Bedingungen der Endlichkeit und Kontingenz unserer Existenz aber weder ein theoretischer Grund noch eine Garantie ihrer Realisierung in Aussicht steht, um diese Möglichkeit begreiflich zu machen, postuliert die praktische Vernunft die Existenz einer obersten sinnverbürgenden Instanz, die die Tradition unter dem Namen Gottes begreift (AA 5, 226).

Dieser Gedanke Kants erscheint Vielen bis heute als eine zeitbedingte Verlegenheitslösung, die kaum ernst zu nehmen sei, und die von dem Kernbestand der Kantischen personalen Ethik und auch der politischen Ethik ohne Schaden abgelöst werden kann. Diese Meinung übersieht oder unterschätzt die Problemlage, auf die ein solches Postulat reagiert. Sie ist – das ist noch einmal zu betonen – aufs engste mit der conditio humana verbunden. Das ist Kants Gedanke: Für die Moralität unserer Absichten können wir selber sorgen, wenn wir es nur wirklich wollen. Für das Gelingen eines Lebensentwurfs und unser Wohlergehen und auch für die im Weltmaßstab gerechte Verteilung von Gerechtigkeit und Glück können wir nicht in allen Stücken selber sorgen. Damit ein auf Moralität angelegtes Leben am Ende vielleicht auch ein glückliches Leben genannt werden kann, sind wir auf so etwas wie eine Gunst angewiesen, die uns von dem, was nicht in unserer Gewalt steht, gleichsam erwiesen wird. Sofern wir aber unser Wohlergehen und unser Glück im Auge haben, hegen wir auch die Hoffnung, dass es uns zuteilwerden kann und das Leben uns nicht ganz im Stich lässt. Damit hegen wir die Hoffnung auf eine Entsprechung zwischen unseren moralischen Intentionen und unseren Glückserwartungen. Und damit hegen wir auch die Hoffnung, dass die Welt, in der wir alle leben, uns nicht wie Dantes Hölle mit dem Ruf zurückweist: „Lasciate ogni spiranza!“ – „Laßt alle Hoffnung fahren!“ Die Hoffnung geht vielmehr dahin, wie Kant es in seiner ästhetischen Theorie ausgedrückt hat, dass der Mensch „in die Welt passe“ (AA 16, 127). Und so scheint die Erfahrung von Glück mit der Erfahrung von Schönem analog zu sein. Denn hier wie dort wird eine Harmonie von heterogenen Elementen erfahren, die wir nicht selbst bewirkt haben, die sich wie von selbst einstellt und uns eben dadurch beglückt. Darauf reagiert Kants Lehre von dem Postulat der Existenz Gottes. Sie verdankt sich dem Gedanken, dass wir für das, was nicht in unserer Macht steht, was uns begegnet und auf dessen Eintreten wir nur hoffen können, auf das wir unser Leben im personalen wie im globalen Sinn aber doch auch bauen, dass wir dafür einen Grund annehmen bzw. uns denken müssen, ohne den diese Hoffnung selber sinnlos wäre. Vielleicht wäre dies auch eine Basis, von der aus die verschiedenen Religionen sich ohne Preisgabe der Unterschiede ihrer Glaubensinhalte verständigen und in Toleranz und Frieden in einer pluralistischen Weltgesellschaft zusammen leben können.

Ein solcher Gedanke ist ein Gedanke der Vernunft. Mit ihm antwortet Kant auf die Herausforderung, die an die aufgeklärte Philosophie und an die säkulare Weltgesellschaft von Seiten der Religion mit zunehmender Dringlichkeit herangetragen wird. Eine kritische Philosophie, die sich in der Tradition der Aufklärung versteht, muss sich daher gegenüber den Ansprüchen der Religion gar nicht polemisch verhalten. Sie hat nur ihren eigenen Begriff bis in seine letzte Konsequenz zu entfalten. Dann gelangt sie zu jenem Weltbegriff der Philosophie. Er könnte, wie gesagt, auch zu einer Verständigung unter den Religionen dienen. Denn dieser Weltbegriff der Philosophie enthält selber den zureichenden Grund, der das Unverfügbare, das die menschliche Existenz aufgrund ihrer Kontingenz und Endlichkeit wie ein Schatten begleitet und von dem sie auch unter den Bedingungen einer fortgeschrittenen Säkularisierung nicht loskommt, mit der Einheit eines universalen Sinnzusammenhangs in Übereinstimmung bringt, ohne jenes Unverfügbare aufzulösen. Das ist vielleicht die einzig rational vertretbare Theodizee angesichts der Übel in der Welt, und das ist am Ende wohl auch das, was wirklich jedermann notwendig interessiert.

 

[1]        Zu Kants Verwendung der Formel „Bestimmung des Menschen“ vgl. ferner AA VIII, 18 f., 24-28; AA V, 298-303; AA VI, 267f., 50, 162; AA VII, 321 ff. u. AA IX, 447.

[2]        I. Kant: Bemerkungen in den “Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen” / Hg. v. Marie Rischmüller. Hamburg: Meiner, 2013, S. 38.

[3]        Kant I. Zum ewigen Frieden / Hrsg. von O. Höffe. 2. Aufl. Akademie Verlag, Berlin 2004. S. 247.